Gernot hat geschrieben: 9. August 2023 09:40
Dem Nolan seine Drehbuch- oder Storytellingfähigkeiten abzuschreiben, ist schon etwas gewagt, würde ich behaupten.
Nicht wirklich. Wenn Nolan konsequent für eine Sache kritisiert wird, und das schon recht lange, dann für seine Dialoge, und das ist schlimmer geworden, seit sein Bruder Jonathan Nolan (in meinen Augen der bessere Autor, siehe "Westworld" und vor allem "Person of Interest") nicht mehr aktiv an den Drehbüchern mitwirkt. Ich habe ja, bevor ich "Oppenheimer" gesehen habe und dann Interviews mit vielen aus der Crew hatte, mir alle Nolan-Filme noch einmal angesehen, recht kurz hintereinander, und ab "The Dark Knight Rises" (an dem Jonathan Nolan nur noch eingeschränkt beteiligt war) merke ich im Storytelling und in den Dialogen einen deutlichen qualitativen Verlust für Nolans Filmografie. Man kann das bestimmt auch ganz lässig anders sehen, aber ich halte das nicht wirklich für eine gewagte Meinung. – Bzw.: Was ist schon gewagt daran, Dinge einfach ein bisschen anders einzuschätzen? Eigentlich nichts.
Gernot hat geschrieben: 9. August 2023 09:40
Hätte man die ganze Geschichte nicht auch anders zeigen können - zB. den Fokus weniger auf Strauss legen? Sicherlich. Nolan hat sich aber dafür entschieden, deswegen zeigt er die Anhörungen und auch immer wieder das Gespräch mit Einstein am See, weil Strauss ja offenbar alles versucht hat, Oppenheimer in Misskredit zu bringen und es ja eine zeitlang auch schaffte und somit eine wichtige Rolle in dessen Biographie einnimmt (was ich vorher nicht wusste).
Strauss ist eigentlich nur für zwei Sachen bekannt: Er war unverschämt reich und er hat Oppenheimer (zumindest für eine Zeit) ruiniert. Ehrlich gesagt fand ich es daher mehr als befremdlich, dass Nolan die wahren Intentionen Strauss' tatsächlich lange nebulös hält und dann sogar in Form eines Plottwists erst im letzten Drittel offenbart. Warum er das tut, ist mir schleierhaft, denn wer sich vorab schon mal in Ansätzen mit der historischen Geschichte Oppenheimers auseinandergesetzt hat, bekommt hier zweieinhalb Stunden unnötigerweise ein dickes Fragezeichen in den Kopf gesetzt. Es ist ja selbst in Unkenntnis der wahren Geschichte ein alberner Twist, da die Gegenüberstellung der zwei Figuren durch Nolans Struktur bereits eine Pro- und Antagoniten-Position voraussetzt.
Das Gespräch mit Einstein am See (für mich die beste Szene des Films, zumindest am Anfang, Tom Conti ist herausragend in der kurzen Rolle) ist übrigens gänzlich fiktiv und hat es so nicht gegeben. Oppenheimer ist mit Tellers Berechnungen nie zu Einstein gegangen und das Strauss seinen Kontrahenten vernichten wollte, weil er dachte, dieser hätte ihn bei Einstein unbeliebt gemacht, ist eine reine Drehbucherfindung. Hätte es die gebraucht? Für mich nicht. Der Film legt ja all die anderen Motive dar, weshalb Strauss in der Realität auch gegen Oppenheimer agierte, da braucht es keine künstliche Zuspitzung, die ich zudem auch nicht so richtig glaubhaft finde. Oder soll ich Nolan jetzt ernsthaft glauben, dass nach diesem verhängnisvollen Treffen am See Strauss und Einstein nie wieder ein Wort gewechselt haben? Nur dann wäre seine Fehlannahme ja überhaupt ansatzweise nachvollziehbar. Das Missverständnis kann in dem Moment entstehen, aber doch keine zehn Jahre aufrechterhalten werden.
Gernot hat geschrieben: 9. August 2023 09:40
Ansonsten glaube ich auch, dass Nolan die Person Oppenheimer bewusst so gezeigt hat und Murphy ihn perfekt verkörpert hat
Klar ist das bewusst, es wird nur eben auch bewusst nicht immer dem Menschen gerecht, der Oppenheimer eigentlich war und ist mehr an die fiktiven späteren Darstellungen Oppenheimers angelehnt, als an den "echten" Oppenheimer. Das kann ein Problem sein, muss es jedoch nicht. Mich störte, dass Nolan mir in drei Stunden diesen Menschen nicht näher bringen kann. Der Mann hat 1965 öffentlich im Fernsehen bittere Tränen geweint, in dem Zusammenhang fiel auch sein berühmtes "Now I am become death, the destroyer of worlds." Wo ist dieser Mann in Nolans Film? Nach drei Stunden Kino blieb bei mir nur den Eindruck, dass der Kerl ein ziemlicher Waschlappen war. Murphy hat das sicher gut verkörpert, aber er spielt eben einen toten, leblosen Charakter, und kann da auch kaum mehr mit machen.
Nolans Schwäche war immer die Bindung an seine Figuren. Viele empfinden seine Filme als kalt und berechnend, und er sucht sich mit "Prestige", "Memento", "Tenet" und "Dunkirk" ja auch regelmäßig Stoffe aus, die eher Konzeptfilme sind, bei denen die Figurenbindung nicht allzu intensiv ausfallen muss. Das ist ein kluger Schachzug von ihm. Und es ist auch der Grund, warum er "Oppenheimer" so übertrieben kompliziert erzählt. Bei Nolan ist das Konstrukt immer größer als das Konstruierte.
Samedi hat geschrieben: 9. August 2023 09:43
wer sich nicht für amerikanische Politik interessiert, der wird den Film weder mögen, noch verstehen können.
Einerseits stimmt das, da das exzessive Namedropping (siehe McCarthy und Co.) ohne Vorkenntnisse nur schwer nachzuvollziehen ist. Andererseits kann ich deine Ansicht nicht bestätigen. Ich habe mich vor dem Kinobesuch sehr genau über Oppenheimer belesen und u.a. die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Biographie durchgebüffelt, auf der Nolans Film beruht, und hatte gerade auch deshalb meine Probleme mit den Verkürzungen und Vereinfachungen, die Nolan vornimmt. Jean Tatlock ist bei ihm nur eine (nackte) Randnotiz, ihre Brüste sind wichtiger als ihre Überzeugungen (ja – Nolan hatte immer ein großes Problem mit Frauenfiguren (und bekam regelmäßig auf den Deckel dafür), aber nie zuvor war es so verheerend). Los Alamos als errichtete Wüstenstadt, die neben Laboratorien auch Bars, Tanzräume etc. enthielt, findet nur in Dialogen, aber nicht in Bildern statt. Die vielen teils verheerenden Fehlschläge, die es im Zuge des Atombombenbaus gab, spart Nolan fast alle aus, weil ihn die Explosion der Bombe mehr interessiert als der Weg dahin – usw.