Fatih Akin und seine Filme

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Ich finde, wir sollten einen der großen Gegenwarts-Regisseure im deutschen Film ebenfalls würdigen: Fatih Akin


Filmografie:

Regie:
1994: Das Ende (Kurzfilm)
1995: Sensin – Du bist es! (Kurzfilm - auch Drehbuch)
1996: Getürkt (Kurzfilm - auch Drehbuch)
1998: Kurz und schmerzlos (auch Drehbuch)
2000: Im Juli (auch Drehbuch)
2001: Wir haben vergessen zurückzukehren (Dokumentarfilm - auch Drehbuch)
2002: Solino
2004: Gegen die Wand (auch Drehbuch)
2004: Die alten bösen Lieder (Kurzfilm-Beitrag zum Kompilationsfilm "Europäische Visionen" - auch Drehbuch)
2005: Crossing The Bridge – The Sound of Istanbul (Dokumnetarfilm - auch Drehbuch)
2007: Auf der anderen Seite (auch Drehbuch)
2009: Soul Kitchen (auch Drehbuch)
2009: Der Name Murat Kurnaz (Kurzfilm-Beitrag zum Episodenfilm "Deutschland 09" - auch Drehbuch)
2009: Chinatown (Kurzfilm-Beitrag zum Episodenfilm "New York, I Love You" - auch Drehbuch)
2012: Müll im Garten Eden (Dokumentarfilm - auch Drehbuch)
2014: The Cut (auch Drehbuch)
2016: Tschick

Drehbuch:
2005: Kebab Connection
"Nelly, I'm about to get neck-ed back here. So: No peekin'! ... I said: No peekin'!"
(Joe Bang)

Der Psycho und der Hipster

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Da ich gestern Abend noch im Kino war, kann ich da tatsächlich gleich mal was beisteuern.

Tschick

Es ist immer wieder dieselbe Frage, mit der sich Literaturverfilmungen stets, vor allem dann, wenn sie auf besonders bekannten Vorlagen basieren, beschäftigen müssen: Braucht man einen Film zu einem Buch, dass bereits jeder gelesen hat? Selten konnte man diese Frage im Jahr 2016 mit solcher Dringlichkeit stellen wie im Falle von "Tschick": Wolfgang Herrndorfs vielfach ausgezeichnetem deutschen Jugendroman von 2010, der über 2 Millionen Leser fand und längst neben Mark Twains oder J. D. Salingers größten Erfolgen Bestandteil des deutschen Schulsystems geworden ist. Der deutschtürkische Regisseur Fatih Akin traute es sich schließlich zu, der großen Leserschaft einen visuellen Einblick in die Imagination Herrendorfs zu offenbaren, eine Reise zurück in die eigene Kindheit, die widerrum von zwei Jugendlichen handelt, die in die Welt der Erwachsenen vorstoßen wollen. Raus aus der tristen Wohlstandsverwahrlosung Marzahns, hinaus in die Walachei, eine Region, die nicht von ungefähr im allgemeinen Sprachgebrauch längst ein Synonym für "sehr weit weg" geworden ist.

Die Geschichte von "Tschick", sie ist eigentlich die Geschichte von Maik und seiner Begegnung mit Tschick, der Entwicklung, die durch seinen neuen ausländischen Klassenkameraden mit der fürchterlichen Frisur angestoßen wird. Akin inszeniert Maik als einen von sich selbst frustrierten Außenseiter, irgendwo zwischen Kindheit, Pubertät und Adoleszenz gefangen, aber stets mit dem Wunsch, aus sich und seinem Umfeld auszubrechen. In der visuell gewaltigsten Sequenz des Films ist Maik die Kälte seines Vaters endgültig zuwider. Er zielt mit seinen Fingern ganz unschuldig auf seinen Dad und schießt diesen plötzlich grotesk brutal und blutspritzend über den Haufen. Natürlich entlarvt Akin den schockierenden Anblick schnell als Traumsequenz, als "kindische" Spielerei, doch ist dieser beinahe simple Effekt absolut charakterdefinierend, für Maik wie auch für sein filmisches Abenteuer. Als er auf Tschick (der gerne mal betrunken zum Unterricht erscheint) und dessen "geliehenen" Lada Niva trifft, eröffnet sich ihm eine neue Welt, weg von der alkoholkranken Mutter, weg von der Klasse, in der er nur "Psycho" genannt wird, weg von Tatjana, die er schüchtern nur aus der Ferne anhimmelt. Es ist ein Glücksfall, dass Akin es nicht nur versteht, seine Protagonisten perfekt und effektiv zu charakterisieren, sondern sie auch ideal besetzen konnte: Tristan Göbel liefert als Maik eine mitreißende Performance und wird nur von Co-Star Anand "Tschick" Batbileg übertroffen, der vollkommen authentisch als russischer Spätmigrant-Hipster erscheint, der voller Energie und Elan steckt, aber in seiner immer nur ganz kurz verdunkelten Mimik andeutet, die gar nicht so idyllische Welt der Erwachsenen bereits einmal betreten zu haben.

"Tschick" war schon als Roman ein waschechtes Roadmovie und so ist die filmische Adaption für die ganz große Leinwand nur folgerichtig gewesen. Genaustens durchgeplant und in schnörkelloser Aufmachung zeigt die Regie Maisfelder, weite Wiesen und verträumte ostdeutsche Dörfer in makellos knalligen Farben, ohne sie zu präsentieren. Penibel vermeidet es die Erzählung zu dem Zeitpunkt, die Coming of Age Geschichte mit Pathos, gestellter Dramatik oder aufgesetzten philosophischen Jugendgedanken zu würzen. Die Regie von "Tschick" bleibt von Anfang an aufs zeigen beschränkt, füllt optisch aus, was Herrndorf auf seinen Seiten niederschrieb. Wenn Akin abweicht, dann nur, um ein paar visuelle oder an den nötigen Stellen entschlankende Akzente zu setzen sowie auch die Musik des Komponisten Vince Popes erstaunlich dezent bleibt, nur unterstreicht, aber stets im Geiste des geschriebenen Wortes. "Ist euch schon mal aufgefallen, dass ein Spiegel nur links und rechts, aber nicht oben und unten vertauscht?", werden Tschick und Maik an einer Stelle des Films gefragt werden und fast scheint Akin hier ein Statement zu seiner eigenen Politik im Umgang mit der Vorlage zu äußern: Hin und wieder einen anderen Kontext suchen, eine Message zwischen den Zeilen in den Vordergrund rücken, aber dabei das Gefüge des Originals beibehalten. Es liegt an den Umständen des viel zu frühen Tods des Autoren, dass man hierbei nur spekulieren darf, doch mit Sicherheit hätte Herrndorf großen Gefallen an dieser Adaption gefunden.

So verfällt Akin notgedrungen, aber mit überspielender Leichtigkeit in einen Erzählrhythmus, der einer Aufzählung gleicht, in Etappen verläuft. Akin, dies schimmert stets durch, nimmt die Vorlage ernst und würdigt sie mit dem größten Respekt (selbst die absurdesten Momente des Romans ("Reis mit Pampe") oder die stilechte Jugendsprache bleiben mit dem nötigen Ernst enthalten), will aber auch das Mittel des Films nutzen, um mehr Tempo und Action zu bieten, um die Leinwand in Bewegung zu setzen. Ständig flüchten die Jungen, mal vor sich selbst, mal vor der Heimat, mal vor der Polizei, immer wieder stolpern sie direkt in die nächste Zufallsbegegnung. Kritisieren kann man daran problemlos, dass die einzelnen Abschnitte der Narration in ihrer Beschwingtheit mitunter stark variieren und so die Abmischung von Ruhe und Bewegung nicht immer ideal ist. Gravierender ist möglicherweise, dass bei aller Lässigkeit, Coolness und Energie die Tiefe der Figuren nach hinten hinaus zu dürftig erscheint für die Botschaften, deren Potenzial hier schlummert, weshalb der Film wohl auch bewusst in den letzten 15 Minuten arg zusammenfassend die letzten Kapitel abklammert und hastig endet. Es ist eher die Zärtlichkeit, die Sorgfalt für die Wünsche und Ideale der Jugendlichen, die "Tschick" so sympathisch und ehrlich machen, die ihm seinen Charakter verleihen. "Tschick" setzt sich für seine Zielgruppe ein, und das unprätentiös und unkompliziert, dabei gerne bewusst vereinfachend und seicht gehalten, aber immer spaßig und mit dem Blick nach vorne.

Fazit: "Tschick" ist Roadmovie-Kino für kleine und große Jungs und eine der glücklichen Ausnahmen, bei denen im Verhalten der großartig gespielten 14-jährigen Sympathieträger nicht der Blick Erwachsener von oben herab durchschimmert, sondern ein glaubwürdiger Querschnitt in das Denken der Jugend vorgenommen wird, von dessen Unschuld und Naivität die Kraft des Films maßgeblich ausgeht. Dennoch bleibt seitens der Leserschaft die drängende Frage: "Braucht man diesen Film?" Und hier muss die Antwort klar lauten: Und wie man das tut! Denn obgleich Fatih Akin den geschriebenen Worten Wolfgang Herrndorfs nicht viel hinzuzufügen hat, so versteht er es, den Zuschauer für 89 Minuten noch einmal mitzunehmen in die Welt von Maik und seinem Freund Tschick, in der die Walachei, in der "sehr weit weg", auch mal ganz nah dran sein kann.

7/10
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/

Let the sheep out, kid.

Re: Fatih Akin und seine Filme

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Ich mag seinen meistens unbehauenen Stil - sowohl in seinen Dramen als auch in seinen Komödien. Seine letzten beiden Filme habe ich nicht gesehen.

Regie:
1998: Kurz und schmerzlos - 7,5/10 Punkte
2000: Im Juli - 8/10 Punkte
2002: Solino - 7/10 Punkte
2004: Gegen die Wand - 10/10 Punkte
2007: Auf der anderen Seite - 9/10 Punkte
2009: Soul Kitchen - 8/10 Punkte

Drehbuch:
2005: Kebab Connection - 7,5/10 Punkte
Zuletzt geändert von Funksoulbrother am 6. Dezember 2017 23:18, insgesamt 1-mal geändert.
"Nelly, I'm about to get neck-ed back here. So: No peekin'! ... I said: No peekin'!"
(Joe Bang)

Re: Fatih Akin und seine Filme

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iHaveCNit: Aus dem Nichts (2017)

„Aus dem Nichts“ ist der neue Film von Fatih Akin mit Diane Kruger in der Hauptrolle. Sie hat dafür in Cannes dieses Jahr den Preis für die beste weibliche Schauspielern erhalten und der Film ist für Deutschland mit im Oscar-Rennen. Das hat mir nach einem interessanten Trailer und auch sehr interessantem Thema gereicht, den Film sehen zu wollen.

Wir begleiten Katja, die bei einem Bombenanschlag ihren Sohn Rocco und ihren türkischen Ehemann Nuri verliert. Weil Katja eine junge Frau ein Fahrrad vor dem Geschäft ihres Mannes hat ungesichert parken sehen, wird der jungen Frau und ihrem Mann mit rechtsradikalem Hintergrund der Prozess gemacht. Doch beide werden in einem zähen und für Katja nervenaufreibenden Prozess freigesprochen. Doch sie schört weiterhin Rache für das Leben ihrer Liebsten.

Fatih Akin nimmt in diesem Film die NSU-Anschläge zwischen 2000 und 2007 als Aufhänger für diesen Film, der sehr subjektiv Stellung bezieht – und auch aktuell aufgrund seiner Thematik sehr mutig ist. Der Film verknüpft Rachethriller, Charakterdrama, Justizthriller zu einer stimmigen Einheit, die ihn zu einem der besten deutschen Genrefilme der letzten Jahre macht. Auch, weil er sich ein paar inszenatorischen Kniffen bedient und nicht ganz konventionell daherkommt. Das liegt an einer entsprechenden Dreiteilung des Films, der sich mit unterschiedlichen Themen auseinandersetzt und Familiendrama, Gerichtsthriller und Rachethriller aufteilt. Dreh- und Angelpunkt für den Film ist jedoch Diane Kruger, die hier für mich die beste Performance ihrer Karriere abliefert. Fatih Akin hat ihr eine perfekte Rolle auf den Leib geschrieben und die Kamera ist immer nahe an ihr dran, um alle Emotionen ungefiltert einzufangen. Wir bekommen eiskalt ihre Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit zu spüren – und wie die leicht rechtsradikal orientierten Ermittlungen der Behörden weitere Hindernisse für Katja bereit halten. Der Film macht somit richtig wütend und wühlt ordentlich auf. Natürlich kann sich der Film nicht von einigen Klischees und einer leicht konstruierten Handlung befreien, aber der Impact bleibt auf jeden Fall. Demnächst wird auf jeden Fall Pflicht, dass ich mir endlich mal einen Teil der weitere Filme von Fatih Akin ansehen möchte. Für mich steht nun fest, dass ich diesem Film bei seinem Oscar-Rennen die Daumen drücken werde.Der Film kam für mich quasi „Aus dem Nichts“ und hat sich nach „Victoria“ und „Toni Erdmann“ in die Reihe der besten deutschen Filme eingereiht.

„Aus dem Nichts“ - My First Look – 9/10 Punkte.
"Weiter rechts, weiter rechts ! ..... "

Re: Fatih Akin und seine Filme

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Die Kruger fand ich schon immer gut, den Akin dafür weniger. Einen Film über Terror von rechts kann man natürlich machen, spricht nichts dagegen und das Schöne: Gegenwind wird da auch von keiner Seite kommen.

Schaut man sich allerdings die Anschläge der letzten Jahre weltweit und eben auch in D an, dann wäre allerdings ein anderer Aufhänger wesentlich nahe liegender. Aber da würde es natürlich ein entrüsteten PC-Sturm geben, also lieber Finger weg.
http://www.vodkasreviews.de


https://www.ofdb.de/autor/reviews/45039/

Re: Fatih Akin und seine Filme

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Casino Hille hat geschrieben:Höre das grade zum ersten Mal. Würde hier innerhalb Deutschlands natürlich passen, da "wir" "unsere" eigenen Schauspieler ja gerne herabwürdigen.
Dann guck dir mal einige Kritiken zu "Inglourious Basterds" an oder auch hier im Forum wurde gerne über Diane Krueger abgelästert.
"Verstehen Sie mich nicht falsch es ist nichts persönliches, es ist was rein geschäftliches."

Re: Fatih Akin und seine Filme

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Casino Hille hat geschrieben:Verstehe die unterschwellige Kritik nicht. Der Film ist inspiriert von den NSU Morden. Wo ist das Problem?
Nirgends, ist ok. Die "unterschwellige" - eigentlich ist sie deutlich :) - Kritik meint nur, dass es beim Thema Terror eben keine deutschen Filme gibt, die andere Verursacher in den Mittelpunkt stellen. Jedenfalls keine ambitionierten Kinofilme, die mir belkannt wären. Da traut sich wohl keiner, wohingegen man bei einem Film über die NSU nicht sonderlich viel Mut braucht.
http://www.vodkasreviews.de


https://www.ofdb.de/autor/reviews/45039/