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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Charlie und die Schokoladenfabrik
Den meisten Kinderbüchern wohnt ein pädagogischer Holzhammer inne. Schon die Märchengeschichten von vor mehreren Jahrhunderten dienten letztlich der Erziehung des eigenen Nachwuchses. Zum Glück spielen da nicht alle Schriftsteller mit: Der Waliser Roald Dahl schrieb Kinderbücher auf Augenhöhe mit seiner Zielgruppe, schlug sich stets auf die Seite der unglücklichen Kleinen. Seinen Helden Charlie Bucket führt er in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ so ein: „Charlie war der glücklichste Junge auf der Welt. Er wusste es nur noch nicht.“ In der Tat: Zu Beginn sieht es für den Knaben nicht gut aus: Mit Mama, Papa und seinen vier Großeltern lebt er in einem kleinen Haus am Existenzminimum, hat kaum Essen auf dem Teller. Zum Geburtstag gibt es kein Spielzeug, keine großen Geschenke, sondern nur eine Tafel Schokolade.
Im Jahr 1971, sieben Jahre nach Veröffentlichung des Buches, wurde Dahls vielleicht bekanntestes Buch ein erstes Mal verfilmt – und in den USA zum Kult. Doch er schimpfte über das Musical mit Gene Wilder als Schokoladenfabrikanten Willy Wonka. Die süßliche Inszenierung des Regisseurs Mel Stuart war ihm zu soft. Es fehlten die traurigen und sardonischen Elemente. Er zog seine Konsequenzen, verkaufte nie die Adaptionsrechte für die Fortsetzung „Charlie und der gläserne Fahrstuhl“. Hätte er bis 2005 gelebt, hätte er diese Meinung vielleicht überdacht. Denn für die Neuverfilmung von „Charlie und die Schokoladenfabrik“ nahm ein Filmemacher auf dem Regiestuhl Platz, der nicht nur zu den visionärsten Künstlern der US-Filmgeschichte gehört, sondern Dahls Vorliebe für Außenseiter, für verschrobene Welten und für die Macht der kindlichen Phantasie teilt. Auftritt: Tim Burton.
Der eröffnet seine Version des Klassikers nicht mit bunten Farben oder idyllischen Bildern, sondern so, wie es Dahl gefallen hätte: Mit grauen Schornsteinen einer winterlich verschneiten Fabrik. Die Kamera fährt zur gespenstischen Musik seines Stammkomponisten Danny Elfman in eins der Rohre. Im Innern werden hunderttausende Tafeln Schokolade verarbeitet und von Fließbändern durch die Gegend befördert. Eine Hand in einem lilafarbenen Handschuh durchbricht die visuelle Tristesse – und verteilt je eine goldene Eintrittskarte willkürlich auf fünf verschiedene Schokotafeln. Die Hand ist die von Willy Wonka und jede der Karten berechtigen ihren Finder, einen Tag lang die geheime Fabrik des Chocolatiers zu besichtigen. Normalerweise hat hier niemand Zutritt, um Industriespione fernzuhalten. Man erzählt sich die tollsten Geschichten über Wonka. Einmal soll er in Indien einem Sultan einen Palast ganz aus Schokolade gebaut haben.
Tim Burton ist es über mehrere Jahrzehnte gelungen, mit eigensinniger Note emotionale Popcorn-Unterhaltung und handwerklich brillante und tiefsinnige Filmkunst unter einen Hut zu kriegen. Damit ist er die perfekte Wahl für „Charlie und die Schokoladenfabrik“, vereint doch kaum ein anderer Filmemacher so mühelos das Komische mit dem Bizarren. Allein das löcherige, schiefgebaute Haus, in dem Charlie und seine Familie leben, ist eine kreative Kulisse, die andere Fantasy-Filme erblassen lässt. In einer halbstündigen Prolog-Sequenz zeigt er das traurige und graue Leben von Charlie Bucket im blitzschnellen Wechsel mit der Einführung der Kinder, welche an die goldenen Tickets von Willy Wonka gelangen. Einer von ihnen ist ein verfressener deutscher Junge, der in der bayerischen Version von Düsseldorf lebt. Ein weiterer ist Videospiel-süchtig, während die zwei weiblichen Gewinnerkinder so verwöhnt wie arrogant auftreten. Sie alle werden von der Presse begeistert geknipst, stolz stehen die Eltern hinter ihnen.
Als Charlie endlich die entscheidende Tafel Schokolade hat, gibt es für ihn erstmals Grund zu Freude. Er hat – natürlich – das letzte goldene Ticket, und es ist Jungschauspieler Freddie Highmore zu verdanken, dass in dieser Sekunde dem Zuschauer ganz warm ums Herz werden kann. Doch die große Explosion kommt erst: In der Fabrik treffen die Kinder auf Willy Wonka, den Burton mit seinem Lieblingsschauspieler Johnny Depp besetzt hat. Es ist ihre vierte Zusammenarbeit. Depp, mit hysterischer Piepsstimme und bleich-geschminkter Haut, spielt seinen psychopathischen, latent-sadistischen Schokoladen-Fabrikanten auf großartige Weise als Gothic-Zwitter aus Michael Jackson und Howard Hughes. Als er die Tür zur Fabrik öffnet, zitiert Burton den legendären Film „Der Zauberer von Oz“. Bei dem waren einst alle Szenen in der Realität nicht grau, sondern gleich ohne Farbe gefilmt, erst im zauberhaften Land wurde es quietschbunt. So auch hier: Grüne, essbare Wiesen, braune Flüsse voll Schokolade, pinke Wikingerboote aus Lakritze und ein Raum voll domestizierter, nach Zeitplan arbeitender Eichhörnchen sprengen die Grenzen des Erwarteten.
Von nun an ist Burton nicht zu bremsen: Der prächtig inszenierte und entwaffnend schlichte Film bietet eine kuriose Idee nach der nächsten, und wird vollends zur verschwenderischen Johnny-Depp-Freakshow: Auf die Frage eines Kindes, ob wirklich alles in der Fabrik essbar sei, antwortet er gruselig: „Natürlich. Sogar ich bin essbar. Aber das nennt man Kannibalismus und wird in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen.“ Seine Fabrikarbeiter entpuppen sich als Oompa Loompas: Tausende importierte liliputanische Arbeitskräfte, die Wonka aus einem südlichen Land zu sich holte, und mit Kakaobohnen bezahlt. Schon in der Vorlage sind diese Wesen nicht unproblematisch, warf man Dahl doch Rassismus und Verharmlosung der Kolonialgeschichte Afrikas vor. Burton bleibt aller Kritik zum Trotz dicht am Original: Ein einziger Schauspieler, der Kenianer Deep Roy, spielt sämtliche Oompa Loompas.
Wer das Buch kennt, weiß wie es weitergeht: Nach und nach fallen die vier missratenen Bälger ihren Schwächen zum Opfer. Sie zeigen sich vorlaut und frech, und werden dafür bestraft, zu riesigen Blaubeeren aufgeblasen oder in den Müllschlucker geworfen. Die famose Darstellung dieser schonungslosen Verläufe vor exzentrischer Kulisse toppt Burton zusätzlich durch Musical-Einlagen, in denen die Oompa Loompas mit Häme über die Kinder ablästern und dabei munter die Genres wechseln, vom Broadway-Gesang bis zur Beatles-Parodie. Die Verszeilen sind direkt Dahls Buch entnommen. Selbstzweck ist das nicht: Burton behält die Moral der Vorlage im Auge. „Die Eltern sind die Schuldigen“, singen die zwerghaften Billigarbeiter (mit der Stimme von Elfman, nicht von Roy), und verdeutlichen, dass die Kinder nur zu diesen unsozialen, bestialischen Charakteren wurden, weil ihre Eltern ihnen jede Liebe verweigerten – und sie so ihre Phantasie verloren haben.
Dasselbe kann man über Tim Burton ganz und gar nicht sagen. Er setzt von Computereffekten bis hin zu wahnsinnigen Videoclip-Montagen jedes Mittel ein, um „Charlie und die Schokoladenfabrik“ zum cineastischen Fest zu machen. In der verrücktesten Szene, in welcher der Ego-Shooter-Nerd Mike Teavee auf Wonkas modernste TV-Erfindungen trifft, mit denen sich der Zuschauer in die Mattscheibe hineinbeamen kann, probiert der Junge das sofort aus – und landet in „2001: Odyssee im Weltraum“, dem Sci-Fi-Filmmeisterwerk von Stanley Kubrick. Der Monolith, ein rechteckiger Stein, der dort die Fortschritte der Menschheit und die Inspiration ganzer Zivilisationen symbolisiert, wird bei Burton ebenso symbolträchtig durch eine Tafel Schokolade ersetzt. Ganz entkommt er dem Konservativismus der Vorlage aber nicht: So liebevoll er hier seine Leidenschaft fürs Kino zelebriert, so unpassend wirkt die Moral der Szene, wenn durch die singenden Oompa Loompas das Fernsehen zur Verblödungsmaschine für Kinder erklärt wird.
Am Ende ist es auch der Vorlage geschuldet, dass ausgerechnet Charlie ab dem Eintritt in die Schokoladenfabrik nur noch als Staffage im Hintergrund herumsteht. Er ist ein passiver Held, der durch seine Bescheidenheit und für sein Nichtstun belohnt wird. Burton findet jedoch einen intelligenten Weg, den „glücklichsten Jungen der Welt“ im letzten Akt wieder ins Zentrum zu rücken. Regelmäßig zeigt er Rückblenden, die im freudschen Sinne Wonkas Kindheit aufarbeiten. In ihnen bekommt sogar Horror-Legende Christopher Lee als dämonischer Zahnarzt-Vater einen Gastauftritt. Anders als im Roman hat Charlie so nach seinem Gewinn die Aufgabe, Wonka mit seinem Vater zu versöhnen und ihn aus seiner Einsamkeit zu befreien.
Wenn sich dann alles im zartbitteren, feinfühligen Epilog ausgeht, scheint die Filmgeschichte mit Roald Dahl versöhnt. Sein radikales Märchen hat endlich originalgetreu den Weg aufs Zelluloid gefunden, sein Plädoyer ist nach über 40 Jahren auch dort noch gültig: Kinder brauchen Liebe und Fürsorge, um sie an andere weitergeben zu können. Und dabei müssen sie auch mal ihre Fantasie nutzen und kindisch sein dürfen. Wie sagt Charlie selbst im Film? „Süßigkeiten müssen keinen Sinn ergeben. Deshalb sind es ja Süßigkeiten.“
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Let the sheep out, kid.