Für mich handeln alle drei Episoden des Films von je einer Figur (Mia, Butch, Jules), die alle 3 Erlösung erfahren und sich dazu entscheiden, das Richtige zu tun. Mia Wallace ist eine Drogensüchtige, die so scharf auf den nächsten Rausch und ein neues Abenteuer ist, dass sie sogar Heroin fälschlicherweise für Kokain hält. Hätte Vincent sie nicht gerettet, wäre sie definitiv an ihrer Überdosis gestorben. Aber sie wird gerettet und bekommt die Chance, ihr Leben zu ändern und "Erlösung" zu finden. Und sie entscheidet sich für eine Veränderung: Am Ende des ersten Kapitels beschließt sie, Vincent den Witz zu erzählen, der ihr vorher noch zu peinlich war. Sie beschließt, erwachsen zu werden. Nicht umsonst hat sie kurz vor ihrer Überdosis im Film das Lied "Girl, You'll Be A Woman Soon" gehört.
Butch ist der nächste im Film, der eine zweite Chance bekommt: Erst versucht er noch, sich aus seinem kriminellen Leben als Betrüger für Marsellus Wallace herauszustehlen, doch als er und Marsellus im Keller von Zed gefangen gehalten werden und Marsellus vergewaltigt wird, entscheidet sich Butch, nicht wieder wegzulaufen, sondern das Richtige zu tun und Zed und seinen Kumpel zu stoppen. In bester postmoderner Manier ist dann auch die Szene gehalten, in der er seine Waffe wählt. Zuerst nimmt er einen Hammer in die Hand, ein einfaches Werkzeug. Dann einen Baseballschläger, eine grobe Waffe, die im Kino meist von verachtenswerten Gangstern wie Al Capone in The Untouchables genutzt wird oder wie in Shining der Verteidigung dient. So oder so: Es ist eine eher brutale, rohe Waffe, die an den Knüppel unserer Urahnen erinnert. Als Nächstes greift er eine Kettensäge, die Waffe von wahnsinnigen Mördern in Horrorfilmen. Schließlich entscheidet er sich für ein Katana-Schwert, eine Waffe, die von den japanischen Samurai genutzt wurde. Eine Waffe, die Tradition und Ehre symbolisiert. Butch wandert da in wenigen Sekunden durch die Filmgeschichte und wählt eine edle Waffe, er entscheidet sich, ein Held zu sein.
Offensichtlich wird es dann bei Jules. Als er und Vincent von den sechs Schüssen ihres Gegenübers Marvin nicht tödlich getroffen werden, beschließt er, dieses Ereignis als göttliche Intervention zu betrachten und entscheidet sich in Folge dessen, sein Leben zu überdenken. Noch weiter reifen diese Überlegungen in ihn, als er anhand von Marvins tödlichem Ende mit ansieht, wie schnell und kurzlebig dieser Lifestyle ist und wie wenig von dir nach so einem Leben bleibt (man denke an den Auftritt von Mr. Wolff, und an das Säubern des Autos). Er führt das im langen Schlussmonolog auch sehr schön aus und bekennt sich dazu, "jetzt der Hirte zu sein". Er steigt aus dem Mafialeben aus und findet auf den Pfad der Tugend zurück, er bemerkt seine Amoralität und korrigiert sie durch eine deutliche Entscheidung. Dies hat er mit Mia und Butch gemeinsam und für mich ist das der essentielle Grund, warum diese drei Episoden im Film zusammengehören. Sie erzählen alle von derselben Entwicklung, in verschiedenen "Pulp"-Szenarien aus alten Groschenheften.
Aber Quentin Tarantino erzählt noch eine vierte Geschichte, und erst die gibt den Entscheidungen der anderen drei Figuren ihre Bedeutung: Die Geschichte von Vincent Vega. Vince erlebt dieselbe göttliche Intervention wie Jules, hält sie aber für Glück, für Zufall, er gibt ihr keine Bedeutung, er sieht keine tiefere Idee dahinter. Er wächst nicht an dieser Erfahrung, er hinterfragt sein Wesen nicht. Selbiges in der Episode mit Mia: Er begeht einen Fehler, durch den Mrs. Wallace beinahe stirbt und muss die ganze Zeit fürchten, dass er für sein Versagen von Marsellus Wallace hingerichtet werden wird. Trotzdem bleibt er letztlich im kriminellen Leben - und stirbt bekanntlich durch seine Unachtsamkeit (die ihn schon in Episode 1 beinahe das Leben kostet) und seine Unfähigkeit, sich weiterzuentwickeln, als Butch ihn mit Kugeln durchsiebt. Anders als bei den anderen drei Figuren erstreckt sich die Geschichte von Vincent über alle drei Episoden, und sie ist so elementar wichtig, weil erst durch sie die Entwicklung der anderen einen tieferen Sinn erhält: Mit Vincent geschieht das, was auch mit Jules, Butch und Mia passiert wäre, hätten sie sich anders entschieden.
Jetzt zur Frage: Warum verschiebt Tarantino die erste Episode (bzw. den relevanten Teil dieser Episode) an das Ende des Films? Nun, ich sehe darin persönlich zwei entscheidende Stärken, die der Film durch diese chronologische Verrückung gewinnt. Einmal erhält die "Gesamtgeschichte" des Films um Erlösung und Entscheidung so einen stärkeren emotionalen Punch. Lass es mich so formulieren: Pulp Fiction löst schon beim ersten Ansehen den Effekt aus, den andere Filme erst beim zweiten Mal erzielen können. Viele Filme haben Szenen, deren emotionale Wucht, deren Bedeutung für Figuren und Plot sich erst so richtig erschließen, wenn ein Film zum zweiten Mal angeschaut wird. In der Regel hat das dann damit zu tun, dass wir beim zweiten Mal bereits das Ende des Films kennen und deshalb wissen, wie die jeweilige Szene zu deuten ist. Was beim ersten Mal also noch mysteriös oder einfach unauffällig blieb, ist beim zweiten Anschauen plötzlich sehr emotional und kraftvoll.
Wäre Pulp Fiction chronologisch erzählt worden, wäre Jules Entscheidung, das kriminelle Leben nach der göttlichen Intervention hinter sich zu lassen, nur ein Plotpunkt gewesen, der Episode 1 abschließt und uns zu Episode 2 geleitet. Erst im Nachhinein, vermutlich erst bei Sichtung Nr. 2, hätte sich die Bedeutung und Profundität seines Monologs erschlossen - denn was Jules da sagt und welche Einsicht er da hat, ist genau das, was Vincent fehlt und weil es ihm fehlt, wird er später sein Leben hergeben. Aber Tarantino setzt diesen Monolog ganz an das Ende des Films, als wir längst wissen, was aus Vincent werden wird und somit verstehen wir direkt die Bedeutung dieses Moments und das Gewicht hinter der Einsicht von Jules bzw. Nicht-Einsicht von Vincent.
Zweitens gibt es Tarantino die Möglichkeit, wie bei einer Fabel die "Moral von der Geschicht'" an das Ende zu setzen und eine Klammer um den Film zu bilden. Immerhin ist die erste Szene die, in der Tim Roth und Amanda Plummer sich gemeinsam entscheiden, das Café zu überfallen, in dem sie sitzen - und die letzte Szene zeigt uns dann Jules, wie er (der er nun seine Lektion gelernt hat) sein neues Wissen an diese beiden Kriminellen weitergibt. Es lässt den Film wie einen hübschen Kreis erscheinen. Der Film beginnt mit einer schlechten (unmoralischen) Entscheidung und endet mit einer guten (moralischen) Entscheidung. Er folgt diesbezüglich quasi einer klassischen Dramaturgie, er geht nur einen anderen Weg, um am selben Ende wie andere Filme anzukommen.
Hier sind wir aber jetzt wieder bei dem, was erfühlt statt verstanden werden muss: Natürlich hätte Tarantino das auch anders erzählen können, aber der Geniestreich ist für mich gerade der, diese drei Episoden so zu verbinden, dass sie thematisch alle verknüpft sind und dreimal die gleiche Geschichte um Erlösung und Bekehrung erzählen, aber sich durch sie hindurch auch das Gegenbeispiel schlängelt, was wir aber erst wirklich begreifen können, wenn wir wieder am Anfang stehen und den Ausgang der Geschichte von Vincent bereits kennen (und damit auch die Tragik seiner Nicht-Entwicklung greifen können).
Es macht übrigens durchaus Spaß, über die Bedeutung von Pulp Fiction und seine narrative Struktur nachzudenken, weil der Film selbst auch von Bedeutung und Bedeutungslosigkeit erzählt. Der Film ist sehr gut darin, banalen Dingen eine Bedeutung zu geben, wie zum Beispiel dem Inhalt des Koffers, von dem wir nie erfahren, was er eigentlich ist. Müssen wir aber auch gar nicht, denn der Koffer hat seine Bedeutung nicht durch seinen wie auch immer gearteten Inhalt, sondern durch den Umstand, dass Marsellus ihn haben will und Jules und Vincent ihn beschaffen müssen (der Koffer ist also quasi wichtig, weil es ohne ihn keinen Plot gäbe - nur das Pulp Fiction sich diesen Umstands bewusst ist und die "Bedeutung des Koffers" selbstreferenziell mythisch überhöht).
Pulp Fiction ist ein Film über das menschliche Bedürfnis, Dingen einen Sinn / bzw. eine Bedeutung zu geben. Wenn man Pulp Fiction mit diesem Gedanken im Hinterkopf ansieht, wird man fortlaufend auf Dialoge stoßen, die sich genau damit beschäftigen. Zum Beispiel stellt Bruce Willis gegenüber seiner Freundin klar, dass sein neues Gefährt kein Motorrad, sondern ein Chopper ist. Und Jules und Vincent diskutieren in ihrer ersten Szene darüber, wie in Europa ein Quarter Pounder und ein Big Mac genannt werden. Aber es wird auch viel über die Bedeutung von Namen und Begriffen ("What is your name?" - "Butch." - "What does it mean?") oder über die Qualität von Objekten gesprochen, siehe den Genuss des Big Kahuna Burgers oder Vincents Aufregung um einen Milchshake, der fünf Dollar kostet (kurz nachdem er für 300 Dollar harte Drogen gekauft hat).
Die ganze Butch-Geschichte handelt ja auch von einem wertlosen Gegenstand, der goldenen Uhr, für die Butch aber bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen - obwohl der Film in Form von Christopher Walken sich alle Mühe gibt, klarzustellen, dass die Uhr nicht mehr als ein Haufen Scheiße ist.
Bedeutung bekommen Objekte, Namen oder zufällige ("göttliche") Erlebnisse erst dadurch, dass wir sie ihnen geben. Jules hat seinen Bibelvers all die Jahre so interpretiert, dass er der Gerechte ist, der Hirte, aber in Wahrheit war er die ganze Zeit die Tyrannei der bösen Männer - wie er es am Ende auch erklärt und womit er seinen Sinneswandel begründet. Gut oder Böse ist also eine Frage der Wahrnehmung und Perspektive. Logisch: In Mias Geschichte ist Vincent der Hirte, der Gerechte, er rettet sie vor dem sicheren Tod. Aber in der Geschichte um Butch ist er die Tyrannei böser Männer, er arbeitet für Marsellus, er hat den Auftrag, ihn zu stellen und (vermutlich) zu töten. Eine einfache Verschiebung der Perspektive macht aus dem Helden von Kapitel 1 den Gegner in Kapitel 2 und den tragischen Loser in Kapitel 3. Pulp Fiction ist von daher mitnichten ein nihilistischer Film (wie gerne behauptet), weil er das Suchen und Finden von Bedeutung in der Welt als seine wichtigste Agenda ansieht, nicht umsonst endet er mit der Selbsterkenntnis von Jules. Im Schlussbild des Films verlassen zwei Männer das Café, der Eine hat seinen Platz in der Welt gefunden und der Andere wird das nie können - und darf / kann deshalb nicht überleben.
Und so erklärt sich dann auch ironisch der Titel des Films: Pulp Fiction, also Schundwerke, Groschenromane, sind nur so lange Pulp, wie wir sie als solche ansehen. Pulp Fiction, der Film selbst (aber eigentlich auch jedes andere Stück Fiktion), ist daher wie die goldene Uhr: Für die einen etwas wirklich Wertvolles, für die anderen nur ein Haufen Scheiße.