Re: Zuletzt gesehener Film

7411
AnatolGogol hat geschrieben:hahaha, sehr schön! Und jetzt am besten gleich noch Jack hinterher, damit man nicht auf die irrige Idee kommt, es wäre ein einmaliger Ausrutscher von Seiten Coppolas gewesen. Auch abseits Coppolas Katastrophe bin ich ganz nah bei deiner Einschätzung. Scorsese würde ich sogar 9 Punkte geben, Woody dafür nur 6,5 Punkte, da so amüsant sein Segment auch ist es angesichts seines übrigen Oevres doch eher schwächelt - aber wer mag ernsthaft Kritik an Allen üben, wenn in derselben Verpackung Life without Zoe lauert? :lol:
Wahre Worte bezüglich Allen, von dem kenne ich auch besseres, aber Oedipus ist einfach so gut auf den Punkt erzählt und lupenrein Woody-typisch dass es schon Spass macht, er profitiert da sicher auch etwas vom schwachen Coppola-Segment aber ich finde nicht dass es nur daran liegt. Was Life without Zoe angeht bin ich immer noch absolut irritiert und genervt. Was sollte das sein? Eine Pseudo-Lebensstudie à la Kiéslowski für ganz arme gemischt mit einer mittelmässigen Folge von TKKG? Wahrscheinlich habe ich den Film sowieso nicht verstanden.
Casino Hille hat geschrieben:ich sehe den Film anders als Eric vollkommen als Episodenfilm
Direkt gefragt: Wieso? Abgesehen vom gemeinsamen Handlungsschauplatz New York sehe ich da überhaupt kein zusammenhängendes Motiv, und da gerade Allen und Scorsese die Stadt ja sehr oft als Kosmos für ihre Filme verwenden oder in einem neuen Kontext interpretieren ist das gerade bei diesen Filmemachern auch nichts wirklich Neues. Ausserdem sind die Segmente inhaltlich und stilistisch einfach zu unterschiedlich. Ich zweifle nicht daran, dass die drei auch einen kohärenten Episodenfilm auf die Beine hätten stellen können (wie sich das qualitativ auf den Film ausgewirkt hat sei mal dahingestellt) aber hier ist es in meinen Augen eben nicht der Fall.
Casino Hille hat geschrieben:Das Scorsese Abenteuer finde ich dafür gar nicht so toll wie ihr beide. Klar, schön erzählt, aber die Kameraführung ist doch arg bescheiden, um ehrlich zu sein.
Mitnichten, die war wie ich finde gerade eine der Hauptstärken von Life Lessons. Der "Tunnelblick" auf Arquettes Fussgelenk ist da nur ein Beispiel, ein technisch simples aber dafür sehr wirkungsvolles Stilmittel. Die Schlusseinstellung ist dann ja ähnlich gefilmt. Aber auch sonst schwingt die Kamera oft sehr virtuos durch Noltes Atelier, dass es eine wahre Freude ist. Von den auch sehr komplex geschnittenen Mal-Szenen ganz zu schweigen. Keine Ahnung, was daran bescheiden sein soll.
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Re: Zuletzt gesehener Film

7412
Haben wir ernsthaft keinen Thread für Herrn Shyamalan?
Schade - für mich zu Beginn als er bekannt wurde mit Sixth Sense und dann durchaus Unbreakable und The Village einer der spannendsten Regisseure unserer Zeit, und einer der ganz wenigen den ich in vielerlei Hinsicht in einer Tradition mit Hitchcock sehe.
Wie auch immer.

Gestern:
Split, M. Night Shyamalan, 2017

In den USA hatte der extrem günstig produzierte Film mit überraschend gutem Box Office überzeugt und nach nun zwei kleinen, aber positiv aufgenommenen Werken, scheint sich der talentierte Regisseur wieder etwas rehabilitiert zu haben - wobei ich auch seine oft als Total-Gurke abgekanzelten "The Happening" immer mehr mag.

Split ist eine recht simple Geschichte. Die Ausgangsidee hat man so wohl schon in vielen Horrorfilmen gesehen. 3 Mädchen werden entführt, in einem Keller eingespert und man wartet gebannt die ganze Zeit darauf ob sie entkommen können, oder was nun wirklich mit ihnen passiert.
Ich möchte auch kaum mehr auf die Handlung eingehen als viel mehr auf das, worauf es wohl allen bei einem Shyamalan Film ankommt: Die Auflösung bzw. den möglichen Twist und das, ohne zu spoilern (sofern das möglich ist).

Zunächst mal war ich vom unerwartet langen Film nicht durchgehend überzeugt. Der Film ist sehr Wortlastig und kommt so gar nicht Horror-typisch daher. Es gibt keine Schockeffekte - wie so oft beim Regisseur ist es eher der schleichende Horror der subtil überzeugt. Um direkt das positivste vorwegzunhemen: Die Leistung von James McAvoy ist schlicht atemberaubend. Um es klar zu sagen: Wäre DiCaprio hier der Hauptdarsteller (ohne dass er eine ähnliche Leistung auch nur annähernd so glaubhaft bringen könnte) würde es Oscar-Nominierungen regnen. McAvoy ist klar der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Story, was auch aufgrund der Ausgangssituation und seiner Rolle so sein muss. Auch die drei Jungdarstellerinnen machen ihre Sache gut, wobei vor allem Anya Taylor-Joy überrascht.

Wie so oft wird jedoch der Regisseur Opfer der von ihm selbst durch seine vorherigen Filme erzeugten Erwartungshaltung. Nein, Split hat keinen überraschenden Wendepunkt. Doch leider ist der Film über weite Strecken so aufgezogen, als würde alles auf grade einen solchen Hinauslaufen.
Die Handlung kann sich die ganze Zeit über nicht so recht entscheiden, welchen Weg sie gehen will und so bleibt das Gefühl eines nicht ganz ausgegorenen Genremixes. Für einen typischen Horrorfilm entsprechend der Ausgangslage kommt zu wenig Horror, für einen Psychotrhiller à la Sieben fehlt das wirklich clevere, und für einen echten Shyamalan Hammer fehlt einfach die überraschende Auflösung. Und so ertappte ich mich 100 Minuten dabei, im Kopf durchzugehen, was wohl da eigentlich vor sich geht, womit uns M. Night überraschend will, um dann festzustellen, dass es einfach keine Überraschung gibt.
Schlimmer noch: Im Grunde verrät schon das Plakat alles, was es über die Filmhandlung zu wissen gibt, was folgt ist dann einfach eine brillant gespielte, und durchweg meisterhafte Inszenierung eben dessen.

Doch dann kommt die letzte Minute und hier erlaubt sich Autorenfilmer Shyamalan dann doch einen kleinen Kunstgriff, der zunächst albern erscheint. Doch erst wenn man den ganzen Film danach noch ein mal Revue passieren lässt, und erkennt was er hiermit (und im größeren Kontext mit dem wozu der Film gehört) geschaffen hat, macht alles so viel mehr Sinn. Das passt brillant zusammen und so hat er uns doch irgendwie wieder an der Nase herumgeführt.

und weil es so schön ist, jetzt doch etwas Spoliern für alle die den Film gesehen haben:
Spoiler
1. Ich hatte mir eigentlich eine raffinierte Auflösung gewünscht: Es gab einige Anzeichen im Film dass entweder die weibliche Hauptfigur nur ein weiterer Teil der gespaltenen Persönlichkeit ist oder sich das alles sogar nur vorstellt (wenn sie am Ende vor der Bestie flieht, wirkt es teils so, als laufe sie vor sich selbst weg, bis sie am Ende in ihrer eigenen Zelle landet, die durchaus auch eine Zelle in einer psychiatrischen Anstalt sein könnte. Zudem erwähnt die Psychologin ja ggü Kevin/Dennis mal, dass alles in seiner Misshandlung in der Kindheit zurückzuführen ist - was eben auch bei Casey so war.

2. Die Auflösung - also dass der Film im gleichen filmischen Universum spielt wie Unbreakable - ist wirklich gelungen und macht Sinn. Schon mit Unbreakable hat Shyamalan eine vollkommen neuartige Art von filmischen Comics geschaffen. Da spielt er und 100 Minuten glaubhaft ein Drama und Thriller vor, bis man auf ein mal mehr und mehr merkt, dass er uns auf realistische Weise in eine Comicwelt verführt hat. Genau das löst auch die Handlung von Split sehr gut auf, denn bis zu den Fähigkeiten der Bestie am Ende, ist das alles im Film sehr glaubhaft erzäht. Es ist irgendwie faszinierend, wie der Regisseur es versteht, typische Comic Origins Geschichten auf ungewöhnliche Weise zu verpacken.

3. Mir sind teilweise die Ähnlichkeiten zu Red Dragon aufgefallen. Auch dort wird ja den ganzen Film die Ankunft einer neuen Kreatur angekündigt, in die sich der psychisch gestörte Protagonist verwandeln wird
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Re: Zuletzt gesehener Film

7413
danielcc hat geschrieben:worauf es wohl allen bei einem Shyamalan Film ankommt: Die Auflösung bzw. den möglichen Twist
Ich finde, das ist das größte Problem Shyamalans: Seit 6th Sense erwartet eben jeder von ihm überraschende Twists am Ende, die das Gesehene auf den Kopf stellen - was natürlich schon auf dem Papier ein Paradoxon in Reinform darstellt. Ich persönlich halte Unbreakable für seinen mit Abstand besten Film (dieser Esoterikkram aus Sixth Sense kann mich nicht fesseln, viele andere Filme von ihm finde ich eher bemüht peinlich). Split sieht zwar dezent interessant aus, aber fürs Kino wäre der in meinem Fall nix.
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Re: Zuletzt gesehener Film

7414
Den kannst du auch locker zuhause schauen. Macht keinen unterschied.

Aber ich halte sixth sense für grossartig in finnischer Hinsicht. Esoterisch ist der doch nicht.
Aber auch the village ist spannend und signs ist für mich der gruseligste. The happening habe ich nur im TV gesehen und der ist auf trashige Art einfach herrlich gruselig.
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Re: Zuletzt gesehener Film

7415
Tha Happening und Village finde ich tatsächlich total doof. Keine Ahnung wieso, ich kann die in ihrer merkwürdig albernen Überdramatisierung nicht so recht ernstnehmen. :D Sixth Sense ist sicher so ein Grenzfall. Den lieben viele und ich kann das verstehen. Für mich persönlich ist das irgendwie nichts und witzigerweise fand ich den großen Twist gar nicht so besonders unglaublich wie viele andere. Klar, das ist ne lustige Idee, aber für mich hat es emotional nicht viel ausgemacht.
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Re: Zuletzt gesehener Film

7417
danielcc hat geschrieben:Zunächst mal war ich vom unerwartet langen Film nicht durchgehend überzeugt. Der Film ist sehr Wortlastig und kommt so gar nicht Horror-typisch daher. Es gibt keine Schockeffekte - wie so oft beim Regisseur ist es eher der schleichende Horror der subtil überzeugt.
Ich fand den Horror in Split dagegen recht clever aufgebaut. Sobald die Bestie ins Gespräch kommt ist das lange Zeit sehr geheimnisvoll, verstörend und schürt die Erwartungen enorm, und wenn sie dann auftritt geht das ziemlich gut an die Nieren. Ich fand das klasse, aber es stimmt dass die eigentliche Entführungsgeschichte und die Not der drei Mädchen lange Zeit nicht wirklich bedrohlich wirkt, dafür werden dann eben Fragen aufgeworfen, was am Ende kommt.
danielcc hat geschrieben:Die Leistung von James McAvoy ist schlicht atemberaubend.
Ja, McAvoy ist saustark und sein Schauspiel funktioniert gerade in den Nuancen sehr gut. Zum Beispiel ist die Bestie ja ein richtig animalischer Muskelberg, Figuren wie der zappelige Hedwig oder die hoch aufgerichtete Patricia wirken physiologisch ganz anders, er spielt da richtig stark mit seinem Körper. Und das hat jetzt zwar nicht wirklich viel direkt mit seiner Darstellung in Split zu tun, aber ich habe nach dem Kinobesuch ein paar Interviews zum Film geschaut, und da sass dann da plötzlich wieder dieser schmächtige Normalo mit Haaren, Bart und schottischem Akzent und plauderte da ganz natürlich über den Film. Schwer zu beschreiben wieso, aber irgendwie hat mich das immens beeindruckt.
danielcc hat geschrieben:
Spoiler
1. Ich hatte mir eigentlich eine raffinierte Auflösung gewünscht: Es gab einige Anzeichen im Film dass entweder die weibliche Hauptfigur nur ein weiterer Teil der gespaltenen Persönlichkeit ist oder sich das alles sogar nur vorstellt (wenn sie am Ende vor der Bestie flieht, wirkt es teils so, als laufe sie vor sich selbst weg, bis sie am Ende in ihrer eigenen Zelle landet, die durchaus auch eine Zelle in einer psychiatrischen Anstalt sein könnte. Zudem erwähnt die Psychologin ja ggü Kevin/Dennis mal, dass alles in seiner Misshandlung in der Kindheit zurückzuführen ist - was eben auch bei Casey so war.

2. Die Auflösung - also dass der Film im gleichen filmischen Universum spielt wie Unbreakable - ist wirklich gelungen und macht Sinn. Schon mit Unbreakable hat Shyamalan eine vollkommen neuartige Art von filmischen Comics geschaffen. Da spielt er und 100 Minuten glaubhaft ein Drama und Thriller vor, bis man auf ein mal mehr und mehr merkt, dass er uns auf realistische Weise in eine Comicwelt verführt hat. Genau das löst auch die Handlung von Split sehr gut auf, denn bis zu den Fähigkeiten der Bestie am Ende, ist das alles im Film sehr glaubhaft erzäht. Es ist irgendwie faszinierend, wie der Regisseur es versteht, typische Comic Origins Geschichten auf ungewöhnliche Weise zu verpacken.

3. Mir sind teilweise die Ähnlichkeiten zu Red Dragon aufgefallen. Auch dort wird ja den ganzen Film die Ankunft einer neuen Kreatur angekündigt, in die sich der psychisch gestörte Protagonist verwandeln wird
1) Interessanter Gedanke, daran hätte ich nicht gedacht. Das wäre dann natürlich ein ganz anderer Film geworden, aber die Überlegung ist schon ganz witzig.

2) Zustimmung.

3) Auch ein interessanter Vergleich, aber ich sehe da dann doch ein paar Unterschiede. In Red Dragon ist die Ankunft des Drachen bei direkter Gegenüberstellung zu Split fast schon ein nebensächlicher Aspekt der Motivation des Protagonisten, aber einen konkreten Verwandlungsaspekt gibt es dann nicht, da ist die Bestie in Split schon viel präsenter und konkreter.
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Re: Zuletzt gesehener Film

7418
danielcc hat geschrieben:Um es klar zu sagen: Wäre DiCaprio hier der Hauptdarsteller (ohne dass er eine ähnliche Leistung auch nur annähernd so glaubhaft bringen könnte) würde es Oscar-Nominierungen regnen.
Tatsächlich hat diCaprio schon seit über einem Jahrzehnt einen ähnlichen Film geplant, die Verfilmung der realen Geschichte eines Kriminellen mit 23 Persönlichkeiten. In wie weit sich SPLIT an dieser wahren Begebenheit orientiert weiß ich nicht. Genauso wenig, ob er auch jetzt noch einen solchen Film plant.
"You only need to hang mean bastards, but mean bastards you need to hang."

Re: Zuletzt gesehener Film

7420
"Split" wollte ich eigentlich auch sehen, musste ihn aber aufgrund der damit verbundenen Riesenmenge von damit ca. 10 Filmen im Januar aus meinem Kalender streichen. Im Heimkino muss ich mal schauen, ob ich ihn da dann nachholen werde.

M. Night Shyamalan zehrt quasi ja immer noch von seinem genialen Twist aus The Sixth Sense, der einen schon trifft, wenn man das nicht erwartet hat. Aber wenn es bei allen Filmen von ihm auf nur den einen finalen Twist hinausläuft, ist das in Zeiten von z.B. extrem komplexen und ambivalenten Filmen von Nolan und Konsorten viel zu wenig. Vor allem, wenn das Marketing dann den finalen Twist bereits vorwegnimmt und den ganzen Film nahezu obsolet werden lässt. Da ist dann wichtig, im kompletten Handlungsaufbau und dem Schauspiel genug sonst zu bieten zu haben, denn sonst ist ob der Vorhersehbarkeit Langeweile garantiert. Aber ich versuche, mich überraschen zu lassen, sollte ich mich wegen McAvoy hinreißen lassen, "Split" im Heimkino nachzuholen.
"Weiter rechts, weiter rechts ! ..... "

Re: Zuletzt gesehener Film

7421
Mein zuletzt gesehener Film ist the hateful eight, hatte mir die normale BD und stealbook gekauft. Toller Film, der durch tolle Dialoge, einen tollen soundtrack, tolle, es schauspieler und durch ein tolles Drehbuch überzeugt. Hat wirklich Spaß gemacht und ich persönlich fand es schön, wie man in diesen normalen spannngsboge noch die Geschichte mit dem Kaffee eingebaut hat. Toller Film, total empfehlenswert.

9/10 Punkten

Von der assoziativen Schockstarre der Mutter einer Nation...

7422
Jackie: Die First Lady

Der 22. November 1963 ist längst nicht mehr nur als der Tag der Ermordung John F. Kennedys in die Geschichtsbücher eingegangen, sondern als Geburtsstunde zahlreicher Mythen rund um den 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, die erst recht mit einem Interview seiner Witwe Jackie Kennedy nur wenige Tage nach den tödlichen Schüssen nicht mehr aufzuhalten waren. Eben jenes Interview bildet nun den Ausgangspunkt für einen weiteren der zahllosen Beiträge zur Kennedy-Hagiographie, die nicht den vielfach in den Mittelpunkt gestellten Ex-Staatsführer, sondern seine Frau und ihren Umgang mit der Tragödie in den ersten Tagen danach betrachtet. Getragen von einer brillanten schauspielerischen Leistung der über sich selbst hinauswachsenden Natalie Portman ist das 2016er Werk des amerikanisch-chilenischen Regisseurs Pablo Larraín weniger Spielfilm und mehr das Porträt einer Frau, die sich in keinem Porträt in vollem Umfang darstellen lässt.

Gleich vorne weg: In "Jackie" geht es zu keinem Zeitpunkt um Politik oder ein ideologisches Statement. Larraín verpflichtet sich vollständig seiner Aufgabe, einen leisen und sehr intimen Einblick in eine vom Leben im Stich gelassene, menschlich äußerst komplexe First Lady zu bieten. Und diese, jene Jackie Kennedy wird in all ihren unterschiedlichen Facetten und ihrer Zerrissenheit eindrucksvoll mit den Mitteln des Mediums nachgestellt. Um historische Korrektheit geht es hier nur teilweise, genauso wenig wie dieses künstlerisch anspruchsvolle Biopic für sich den Anspruch erhebt, der umfassenden Historie der Kennedy-Familie gerecht zu werden. Viel mehr steht im Fokus, die psychische Ambivalenz der Hauptfigur ästhetisch wie emotional begreiflich zu machen. Jackie ist eine Frau, gefangen zwischen unterschiedlichen Rollen, die sie erfüllen muss: die der tapferen First Lady, der liebenden Mutter, der trauernden Ehefrau, der verantwortungsvollen Repräsentantin einer Nation. Sie steht stets im Mittelpunkt des Interesses, mit allen Augen auf sich gerichtet, und darf dabei nie sie selbst sein. In einem der ergreifendsten Momente des Films streift sie sich nach dem Attentat ihre blutverschmierte Kleidung ab, als sie abends allein in ihrem Zimmer ist. Hier verliert sie jede Fassung, schreit, weint bitterlich. Nur in diesem kurzen Moment darf sie sie selbst sein, bevor sie sich wieder eine neue Kostümierung anlegt und ihre eigenen Empfindungen maskieren muss, um die Beerdigung ihres Mannes zu organisieren oder den Kindern zu erklären, warum Papa nicht mehr nach Hause kommen wird.

Natalie Portman alleine wäre es bereits wert, "Jackie" mindestens zweimal anzusehen. Sie übertrifft sich selbst und setzt ihrer beachtenswerten Karriere ein neues Maximum vor, liefert die eindringlichste schauspielerische Leistung des Kinojahres 2016. Es ist eine Freude und gleichzeitig eine Qual, ihr beim Leiden und Versteckspielen beizuwohnen. Jackie Kennedy verkörpert sie als gleichermaßen mutige und faszinierende, wie als distanzierte und irritierende Persönlichkeit, schafft es, innerhalb einer Szene vom Publikum Bewunderung wie Ablehnung zu erhalten. Larraíns Narration spiegelt das Innenleben seiner Figur wider, sein Film ist gleichermaßen zerrissen und schizophren wie in sich stimmig. Seine Erzählweise gerät elliptisch, collageartig, unchronologisch. Die Anordnung der Szenen gleicht einem Puzzlespiel, bei dem sich nach der Zusammensetzung des Rahmens nach und nach ein Bild offenbart, dass sich in "Jackie" als abstraktes Gemälde erweist. Wer Jackie Kennedy wirklich war, erfährt man aus diesem Film genauso wenig, wie beim Lesen eines Wikipedia-Artikels über sie. In der einen Sekunde scheint sie eine verzweifelte, hilflose Witwe zu sein, in der nächsten wie eine eiskalt berechnende Person der Öffentlichkeit. Ein kurzer, aber brillant geschriebener Moment beschreibt die Haltung Larraíns zu Mrs. Kennedy wohl am besten: Im Interview der Rahmenhandlung zündet sie sich während ihrer Erzählungen eine Zigarette an, nur um direkt darauf den Journalisten darauf hinzuweisen, dass sie Nichtraucherin sei. Ein fast banaler Widerspruch innerhalb weniger Sekunden, der jedoch all das vereint, was der Zuschauer 100 Minuten lang im Kinosaal erleben wird.

Den Widerspruch als zentrales Thema verordnend, ordnen sich alle Werkzeuge der filmischen Erzählung diesem Begriff unter. Der bemerkenswert andersartige Soundtrack des Komponisten Mica Levi setzt einmal auf schmerzhaft-lange Geigen-Stakkatos, um plötzlich eine kindliche Flötenmusik zu spielen. Die bemerkenswerte Kameraführung von Stéphane Fontaine scheint die langen Gänge des Weißen Hauses einmal als perfekte Idylle historischer Bedeutsamkeit zu preisen, nur um sie im nächsten Moment als einsame, papierne Kulisse von Isolation zu entlarven. Final hebt die Regie selbst die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion vollkommen auf. "Jackie" ist nicht nur der Versuch, gleichzeitig der authentischen Person Jackies wie den Mythos um ihren Charakter zu ergründen, sondern erklärt aus den Szenen und Motiven Kennedys heraus ihre Bestrebungen, jenen Mythos durch gekonnte Selbstinszenierung ganz bewusst überhaupt als Denkmal zu ihrem Mann zu schaffen, wobei Larraín deutlich darauf verweist, in seinem Aufgreifen der Kennedy-Historie Jackies Anliegen 53 Jahre später in Teilen nachzukommen. Auf den Zapruder-Film sowie auf jede sonstige Nachstellung des tödlichen Attentats scheint "Jackie" übrigens lange vollkommen zu verzichten, um es dann aber doch noch einzubringen... wenngleich nicht in der Form, wie der Zuschauer womöglich hätte erwarten dürfen.

Fazit: "Jackie" wird nicht als großes Meisterwerk in die Analen der Filmgeschichte oder Kennedy-Aufarbeitung eingehen. Dafür ist der Einblick, den Larraín seinen aufmerksamen Zuschauern gewährt ein zu intimer, aber vor allem auch zu subjektiver, denn so ganz kann er eben nie verbergen, dass "Jackie" vor allem seine Sicht auf die historische Persönlichkeit der First Lady darlegt. Man sollte sein Werk eher als künstlerisch selbstreferenziellen Beitrag zum Mythos um die Kennedys verstehen, der nicht nur ein Porträt seiner Titelgestalt ist, sondern auch ein Porträt Natalie Portmans, deren Ausnahmeleistung selbst die besten Einfälle der Regie überschattet, und auch ein unfreiwilliges Porträt John Hurts, der als Priester in "Jackie" den letzten Auftritt in seiner langen Karriere absolvierte. Die abschließende Aussage Jackies ist so unspektakulär wie ehrlich: Mrs. Kennedy ist nicht gestärkt und auch nicht als Siegerin aus ihrer Tragödie hervorgegangen. Ihr "Sieg" liegt darin, trotz allem immer noch da zu sein. Und dieses "noch da zu sein" ist sowohl Anliegen wie Herzstück der melancholischen Inszenierung.

8/10
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