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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Seefeuer
Gemeinsam mit seinem Freund schneidet der 12-jährige Samuele Gesichter in Kakteen, zerstört diese mit ein paar China-Böllern und klebt sie anschließend wieder zusammen. Samuele ist ein kleiner Junge wie viele andere auch, der es liebt, mit seiner Schleuder Steinchen auf Bäume oder ins Gebüsch zu schießen. Doch in seiner Tat an den Kakteen spiegelt er beinahe metaphorisch seine Umwelt wieder: Samuele lebt auf der italienischen Mittelmeer-Insel Lampedusa, die unlängst eine tragende Protagonistenrolle im andauernden Flüchtlingskonflikt erhalten hat. In seiner Tat, den eben noch beschädigten Kakteen wieder zu helfen, liegt eine gewisse Selbstverständlichkeit und Samuele scheint hierin möglicherweise einfach nur seine Umwelt kindlich unschuldig zu reflektieren. Doch in welcher der beiden Taten liegt das höhere Identifikationspotential, worin der eigentliche Spaß in seinem Spiel? Bei der Gewalt und Zerstörung oder der später vielleicht einfach nur notwendigen Reperatur?
12 Monate lang hat der Regisseur Gianfranco Rosi für seinen eigenwilligen Dokumentarfilm "Seefeuer" auf Lampedusa verbracht und unter anderem das Leid dort ankommender Flüchtlinge festgehalten. Die eigentliche Sensation dieses bemerkenswerten Werkes ist jedoch, dass der Fokus nie auf dem tatsächlichen Drama liegt, sogar der Erwartung seiner Zuschauer entgegen läuft. Er widerspricht der längst im kollektiven Bewusstsein eingegangenen Konditionierung, die Lampedusa automatisch mit der Flüchtlingskrise verknüpft. Der Fokus von "Seefeuer" liegt bei dem kleinen Samuele und seinem traditionellen kindlichen Leben im Schoße seiner bescheidenen Familie. Samuele geht zur Schule, er spielt mit seinem Freund, er erkundet die Natur und hat ganz im Stil eines Dokudramas persönliche Probleme zu bewältigen, wie sein linkes träges Auge (eine mögliche symbolische Verarbeitung eines geteilten, blinden Europas?) oder seine Übelkeit auf hoher See. Diesem Handlungsstrang fehlt von Beginn an jeglicher Bezug zur Flüchtlingsthematik, bestenfalls Metaphern lassen erahnen, dass Rosi sein narratives Mittel der Selektion nicht gänzlich willkürlich gewählt hat. Für eine Dokumentation unüblich bleibt der hohe Detailgrad dieser Erzählung ohne klare Authentifizierung, um die Wirklichkeit der Bilder weiß hier nur noch die Regie. Man würde es sich zu einfach machen, davon auszugehen, dass das behütete Inselleben dem tragischen Schicksal der leidtragenden Flüchtling einfach nur kontrastierend entgegen laufen soll. Viel eher portraitiert Rosi einen Alltag, eine Realität. Es ist eine Momentaufnahme einer gespaltenen Situation.
Nur selten kommt es zum Aufeinandertreffen von Samueles Realität und der Flüchtlingsproblematik. In einem der herausragensten Momente der zweistündigen Situationsaufnahme immitieren er und sein Freund am Ufer (mit ihren Fingern als Platzhalter für Pistolen und Gewehre) vermutlich Helden, wie sie sie aus dem TV oder Kino kennen, und "schießen" in die Ferne. Als Rosi darauf kommentarlos auf ein italienisches Marineschiff überblendet, welches den notleidenden Flüchtlingen zur Hilfe eilt, ist dies einer der niederschmettersten Momente des Kinojahres 2016. Wir sehen Samueles Lebenswirklichkeit von Lampedusa, deren kindliche Unbekümmertheit durch ihn selbst evoziert wird. Doch wir sehen auch die andere Seite Lampedusas, die dort ankommenden Flüchtlinge. In beinahe schon unwirklich scheinender industriellen Routiniertheit folgt den Kameras gänzlich unvoyeuristisch jenen Überlebenden der Bürgerkriege, welche die Weiterreise erleben dürfen. Aber wir sehen auch leidende Flüchtlinge, sterbende Flüchtlinge, tote Flüchtlinge. Die Kamera hält wortlos, ohne jede dramatisierende Musik, auf verstorbene Körper oder zwingt den Zuschauer in gar reißerischer Schnelligkeit, auf einem Motorboot Teilnehmer einer Rettungsmission zu werden. Wir hören von einem Arzt, der sein Leben der Unterstützung der Flüchtenden gewidmet hat. Und wir sehen einen Taucher, wie er immer wieder freiwillig in jene Tiefen absteigt, die für viele Menschen längst zum Grab geworden sind. Was Rosis Film seine Brillanz verleiht, ist dafür das, was wir nicht sehen: den einzelnen Flüchtling als menschliches Individuum.
Diese Herangehensweise kann nur ohne jede Übertreibung als genial bezeichnet werden: Ein Mikrokosmos "Flüchtlingslager" wird gar nicht erst in Betracht gezogen. Anders als bei Samuele ist der filmische Antrieb bei der Erkundung des Flüchtlingsthemas ein gänzlich dokumentarischer und nüchtern-neutraler Blickpunkt. Einzelne Flüchtlinge treten nicht in Erscheinung, sie bleiben ein Kollektiv, eine undefiniert große Masse, die abgefertigt, verschickt und verarbeitet werden muss. Einmal singt ein Überlebender in einem Lager gemeinsam mit anderen eine fast schon Gospel-artige Hymne auf Europa und über den Schrecken, den er hinter sich hat, über Wüstendurchquerungen und den Islamischen Staat, doch trotz der Länge dieser Sequenz bleibt er ein Fremder auf einer Leinwand, mit dem eine Identifikation nur eingeschränkt möglich wird. In diesen langatmigen Bildern liegt das Anliegen Rosis verborgen, gleichzeitig aber auch eine tiefe Ehrlichkeit über die gegenwärtige Lage, deren humanistische Aufrichtigkeit die einzige subtile Positionierung des Dokumentarfilms offenlegt. Immer dann, wenn dem Zuschauer gerade die Möglichkeit gegeben wurde, in die erschreckenden Realaufnahmen einzutauchen, liegt der Fokus wieder bei Samuele und Rosi verweigert die eigentliche Realität. Das damit im Kinosaal provozierte Kopfschütteln ist gleichermaßen sein Triumph über den Zuschauer, wie seine wahre Motiviation, aufzurütteln und aufzuklären.
Fazit: "Seefeuer" ist ein Film, der ganz im Zeichen von Immanuel Kant's Vernunftbestreben steht: langfristig beobachtend, gänzlich unsentimental präsentiert der italienische Regisseur ein alltägliches Leben an einem nicht alltäglichen Ort, dass die einen besitzen und die anderen sich erträumen. Weit entfernt von journalistischer Aufbereitung ist "Seefeuer" in seinen mal wunderschönen, mal überlebensgroßen und dann doch wieder sehr intimen Aufnahmen ein für die große Leinwand inszenierter Appell an Menschlichkeit und den Kategorischen Imperativ. Man mag "Seefeuer" durchaus mit einem Denkmal vergleichen, frei von Erklärungsansätzen oder Lösungsvorschlägen, sondern einfach nur zum Nachdenken anregend unveränderlich, mit erstaunlichem Nachklang. Es bleibt eine Leere in der Magengegend und eine vorherrschende, undefinierte Traurigkeit, die nicht wirklich schön, dafür aber bitter nötig ist.
9/10
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Let the sheep out, kid.