Re: Der Hitchcock Thread

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Maibaum hat geschrieben:Aber der Flughafen Abschied, den ich nur von Fotos kenne, ist das ungewöhnlichere Ende. Eines das mit den Klischees bricht. Das würde Topas für mich aufwerten.
Es lässt einem als Zuschauer aber auch zurück mit dem Gefühl, dass der Film keine echte Auflösung hat. Nach all den Toten und zT sehr drastischen Szenen (die Folter auf Kuba) gehen die Herren Agenten einfach fröhlich ihrer Wege. Das ist auf dem Papier eine clevere und böse Auflösung, im Film funktioniert es aber für mich nicht aus genanntem Grund. Es fühlt sich auch wie ein Stimmungsbruch an, da der Film zuvor viel dunkler rüberkam. Das Selbstmord-Ende leidet dafür natürlich an seinen technischen Unzulänglichkeiten: Noiret muss für Piccoli Selbstmord begehen, was für einen begnadeten Techniker wie Hitchcock es zeitlebens war schon eine kleine Bankrotterklärung darstellt.
"Ihr bescheisst ja!?" - "Wir? Äh-Äh!" - "Na Na!"

Re: Der Hitchcock Thread

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AnatolGogol hat geschrieben: [...] der getrickste Selbstmord? Letztere ist die Version, die mir immer noch am besten gefällt, die Duellszene ist mir zu abgehoben und die Flughafenszene ist mir zu "leichtgewichtig".
Scheint die ganz "normale" Version zu sein: Jarré/Noiret landet auf dem geparkten Wagen im Hof, Granville/Piccoli erschiesst sich in seiner Wohnung nachdem er beim Treffen mit den CIA-Leuten von der Sitzung ausgeschlossen wird und sich dadurch enttarnt weiss. Es ist nur zu sehen, wie er das Appartement betritt, dann hört man den Schuss.

Stafford spielt solide, mir sind aber auch Forsythe und nicht zuletzt John Vernon als Rico Parra überaus positiv aufgefallen. Mir gefällt die gesamte Szene als der Martinique-Blumenverkäufer (Roscoe Lee Browne) sich im Hotel als Journalist ausgibt und gemeinsam mit dem korrupten Sekretär den Koffer entwendet. Ich finde es aber wie gesagt ein kleines bisschen befremdlich, wie wenig die gesamte Kuba-Geschichte mit den gesuchten Fotos und Rico Parra, und der Topas-Handlungsstrang um die Intrige im französischen Geheimdienst eigentlich miteinander zu tun haben. Fast wirkt es, als führe der Film zwei isolierte Geschichten. Dem eigentlich durchweg positiven Gesamtbild tut es aber keinen gewaltigen Abbruch.

Als Nächstes ist im Marathon ürigens wahrscheinlich Psycho an der Reihe, oder evtl. die 56er-Version vom Mann, der zu viel wusste. :wink:
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Re: Der Hitchcock Thread

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AnatolGogol hat geschrieben:
Es lässt einem als Zuschauer aber auch zurück mit dem Gefühl, dass der Film keine echte Auflösung hat. Nach all den Toten und zT sehr drastischen Szenen (die Folter auf Kuba) gehen die Herren Agenten einfach fröhlich ihrer Wege. Das ist auf dem Papier eine clevere und böse Auflösung, im Film funktioniert es aber für mich nicht aus genanntem Grund. Es fühlt sich auch wie ein Stimmungsbruch an, da der Film zuvor viel dunkler rüberkam.

Finde ich jetzt nicht. Es ist ein zynisches Ende, und passt zu Topas. Aber eben auch eines das Zuschauererwartungen unterläuft.

Re: Der Hitchcock Thread

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Unser Austausch hat mich dazu bewegt heute abend Topas mal wieder anzuschauen - inklusive aller drei Enden. Folgendes ist mir aufgefallen:

- der Duellschluss ist Nonsens und es ist nicht verwunderlich, dass dieses Ende bei TEstvroführungen vom Publikum ausgelacht wurde. Ein Duell zwischen Stafford und Piccoli macht aus Sicht der Handlung und der Figuren überhaupt keinen Sinn. Die Erklärung, die Stafford dazu gibt (Piccolis Charakter Granville gewinnt so oder so) ist absolut an den Haaren herbeigezogen wie auch die Idee eines Duells absurd und antiquiert ist. Das ganze ist furchtbar konstruiert und passt überhaupt nicht zum restlichen Realismus des Films. Das Ende steht eher in der Tradition der Enden von VErtigo oder Marnie, die auch recht abgehoben und konstruiert sind, aber welten besser und eben auch passender zum Rest der Filme. Das mit Abstand schlechteste der drei Enden.

- Das Flughafen-Ende ist ungekürzt nicht so schwach wie ich es in Erinnerung hatte. Ich hatte nur noch die gekürzte deutsche Fassung im Kopf, in der der abschliessende Dialog zwischen Stafford und Robin - vermutlich wegen der fehlenden Synchronisation - fehlt. Dieser ist aber unentbehrlich um zum einen die STory einigermaßen zu Ende zu bringen ("Anyway, it´s the End of Topaz") und eine vernünftige Überleitung zum finalen Abspann zu bieten. Allerdings bleibt der "Abschied" zwischen Stafford und Piccoli für mich ein Schwachpunkt, Piccoli winkt Stafford fröhlich zu und Stafford lächelt milde, ja fast schon bewundernd (so als ob er sagen wollte: schau sich einer diesen Schlingel an!): nach allem was die beiden im Laufe des Films verloren haben und was für sie auf dem Spiel stand ist dies einfach unglaubwürdig und im Ton nicht passend. Der anschliessende Dialog zwischen Stafford und Robin lässt es wieder etwas fatalistischer wirken, aber das ändert nichts an der für mich unpassenden Wirkung des "Abschieds" auf der Gangway.

- Der Selbstmord-Schluss ist von der technischen Ausführung ein ziemlicher Witz, da man ohne größere Probleme erkennt, dass nicht Piccoli ins Haus geht, sondern der zu diesem Zeitpunkt bereits mausetote Noiret. Da Hitch das Material nicht gedreht hatte blieb ihm für die Realisierung keine andere Wahl als auf Material einer anderen Szene zurückzugreifen. Die Idee ist an sich nicht dumm, aber wie gesagt die Ausführung für einen Perfektionisten wie Hitch schwach - zumal die zusammengeschusterte Szene auch etwas zu kurz ist und der Schluss dadurch etwas zu abrupt einsetzt. Aber das Ganze wird wieder dadurch abgemildert, dass dies der einzige der drei Schlüsse ist, der vor dem Einsetzen des Abspanns noch einmal alle Opfer des FIlms bildlich revue passieren lässt - was dem Schluss eine sehr düstere Stimmung verleiht. Das ist sehr gelungen und in Kombination mit der guten und passenden Idee des Selbstmords (die zugegebenermaßen recht dilettantisch ausgeführt ist) nach wie vor für mich das überlegene Ende.
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Re: Der Hitchcock Thread

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Maibaum hat geschrieben:Sind die alle auf der DVD?

Ich habe das auch gerade nicht mehr im Kopf, aber das Duell ist nie veröffentlicht worden (oder?), während die anderen beiden in verschiedenen Ländern gezeigt wurden?
ja, im Bonusmaterial. Der Film auf der DVD hat das Flughafenende, die Kinoversion die ab und an mal im TV läuft hat das Selbstmordende. Eine veröffentlichte Version mit dem Duell gibt es glaube ich nicht. Leonard Maltin meint in seinem Kommentar zu Topas übrigens, dass der Film daran krankt dass er im Gegensatz zu den meisten anderen Hitchcock-Filmen keine Stars hat. Ich weiss nicht, ob ich da zustimme. Wäre der Film mit zB Connery in der Hauptrolle besser? Ich glaube eigentlich nicht, da die SToryentwicklung in der zweiten Hälfte ja immer noch genau so schleppend bliebe.
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Re: Der Hitchcock Thread

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AnatolGogol hat geschrieben:Schade, auf 3sat läuft doch wieder nur die Solbach-Synchro von Vertigo...
Naja, die zeigen ja die restaurierten Fassungen ergo Solbach bei Vertigo.

Oder gibt es auch eine Kombination Restauration mit Alt-Synchro?
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Re: Der Hitchcock Thread

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GoldenProjectile hat geschrieben: Scheint die ganz "normale" Version zu sein: Jarré/Noiret landet auf dem geparkten Wagen im Hof, Granville/Piccoli erschiesst sich in seiner Wohnung nachdem er beim Treffen mit den CIA-Leuten von der Sitzung ausgeschlossen wird und sich dadurch enttarnt weiss. Es ist nur zu sehen, wie er das Appartement betritt, dann hört man den Schuss.

Stafford spielt solide, mir sind aber auch Forsythe und nicht zuletzt John Vernon als Rico Parra überaus positiv aufgefallen. Mir gefällt die gesamte Szene als der Martinique-Blumenverkäufer (Roscoe Lee Browne) sich im Hotel als Journalist ausgibt und gemeinsam mit dem korrupten Sekretär den Koffer entwendet. Ich finde es aber wie gesagt ein kleines bisschen befremdlich, wie wenig die gesamte Kuba-Geschichte mit den gesuchten Fotos und Rico Parra, und der Topas-Handlungsstrang um die Intrige im französischen Geheimdienst eigentlich miteinander zu tun haben. Fast wirkt es, als führe der Film zwei isolierte Geschichten. Dem eigentlich durchweg positiven Gesamtbild tut es aber keinen gewaltigen Abbruch.

Als Nächstes ist im Marathon ürigens wahrscheinlich Psycho an der Reihe, oder evtl. die 56er-Version vom Mann, der zu viel wusste. :wink:
Ja, das ist der Kinoschluss. Vernon fand ich auch sehr gut und sehr überzeugend in seiner Rolle. Es ist auch so ziemlich die einzige Rolle von ihm, in der er auf mich nicht „alternd“ oder „verbraucht“ wirkt. In seinen Filmen in den 70ern wie Dirty Harry oder Der Texaner wirkte er optisch immer so müde und alt, obwohl er ja gerade erst knapp über 40 war. In Topas dagegen verkörpert er den vor Kraft und Energie strotzenden Parra sehr überzeugend. Und Roscoe Lee Browne ist für mich auch der zweite herausstechende Darsteller, mir gefällt wie er seine Rolle mit einem Augenzwinkern spielt. Die von dir angesprochene isolierten Geschichten empfinde ich eigentlich nicht so schlimm. Es stimmt natürlich schon, dass das große Leitthema Kubakrise, mit deren Beendigung ja auch der Film endet, sowie die daraus resultierende Spionagetätigkeit Staffords auf Kuba recht wenig mit dem Topas-Spionagering zu tun hat. Aber ich finde, der Übergang ist eigentlich filmisch ganz geschickt eingebettet, so dass man als Zuschauer der Story eigentlich gut folgen kann auch ohne sie wirklich zu verstehen oder zu hinterfragen. Ist ein bisschen wie bei FYEO, wo man als Zuschauer auch nie so weit denkt, dass Gogol eigentlich derjenige ist der Kriegler die Liquidierung von Bond befohlen haben muss.

Das größere Problem bei Topas ist für mich die zähere Handlungsentwicklung in der zweiten Filmhälfte. Die Enttarnung von Topas ist deutlich tempoärmer und weniger einfallsreich inszeniert wie die vorherige Spionagetätigkeit Staffords. Es ist auch etwas schade, dass durch die diversen Verkürzungen in der Kinofassung die Hintergründe über die Beziehung zwischen Stafford-Robin-Piccoli nicht richtig rauskommt. Man sieht ja nur kurz das alte Bild aus gemeinsamen Resistance-Tagen (übrigens eine grottenschlechte Fotomontage). In der ursprünglich vorgesehenen längeren Fassung, die auf meiner DVD-Fassung als Restauration mit drauf ist, gibt es noch eine Szene während eines Empfangs, bei dem Piccoli über die gemeinsame Vergangenheit erzählt und davon, dass Robin genauso gut auch ihn hätte heiraten hätte können. Dadurch bekommt die Dreiecks-Beziehung mehr Gewicht und man kann auch verstehen, warum Piccoli so leicht an Informationen von Robin herankommt (in der Kinofassung entsteht eher der Eindruck, Robins Figur sei eine tratschende Hausfrau, die aus Langeweile mit dem erstbesten eine Affäre beginnt und im Bett Staatsgeheimnisse ausplaudert). Dazu passt dann das Flughafen-Ende auch gut, in dem Robin bei Piccolis gelungener Flucht nach Moskau so zerknirscht reagiert, während sich Stafford lakonisch darüber zu freuen scheint. Sie scheint enttäuscht darüber, dass er straflos davon kommt – was verständlich ist da sie erkannt hat dass er sie nur um an Informationen ranzukommen benutzt hat. Staffords fröhliche Gleichgültigkeit macht hier dann auch Sinn, weil er es Piccoli nicht übel nehmen kann, da er das Geschäft kennt und Karin Dor in ähnlicher Weise benutzt hat.

Ich bin gespannt auf den weiteren Verlauf deines Marathons, vor allem was du über Psycho schreiben wirst. Ich absolviere momentan auch gerade einen eigenen "Dario-Argento-Marathon", vielleicht schreibe ich in den nächsten Tagen auch mal ein bisschen was dazu.

danielcc hat geschrieben:Naja, die zeigen ja die restaurierten Fassungen ergo Solbach bei Vertigo.

Oder gibt es auch eine Kombination Restauration mit Alt-Synchro?
Die vor kurzem erschienene BR-Collection hat die 84er Synchro mit an Bord. Bei der Collection ist auch erstmals die lange als verschollen geglaubte Erstsynchro von Cocktail für eine Leiche aus den 60ern enthalten. Da das ZDF vor ein paar Wochen genau diese Fassung von Cocktail ausgestrahlt hat war ich eigentlich frohen Mutes, dass ihr Tochterkanal 3sat bei ihrer kleinen Hitchcock-Reihe auf die gleiche Quelle zurückgreifen würde, was für Vertigo die Schneider-Synchro von 84 bedeutet hätte. Dem war aber leider nicht so. Muss ich halt weiterhin mit dem Ton meiner alten VHS leben (und warten bis die Vertigo-BR einzeln zu kaufen ist).
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Re: Der Hitchcock Thread

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@Anatol

Wie bewertest/empfiehlst du die Filme Der falsche Mann, Die rote Lola, Ich beichte, Bei Anruf Mord und Der Fremde im Zug? Falls sie zu empfehlen sind werde ich sie mir zusammen mit dem Unsichtbaren Dritten in der Collection kaufen. Aktuell habe ich neben Psycho und dem Mann, der zuviel wusste noch Im Schatten des Zweifels, Marnie und Der zerrissene Vorhang bei meinen Pendenzen.
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Re: Der Hitchcock Thread

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GoldenProjectile hat geschrieben:@Anatol

Wie bewertest/empfiehlst du die Filme Der falsche Mann, Die rote Lola, Ich beichte, Bei Anruf Mord und Der Fremde im Zug? Falls sie zu empfehlen sind werde ich sie mir zusammen mit dem Unsichtbaren Dritten in der Collection kaufen. Aktuell habe ich neben Psycho und dem Mann, der zuviel wusste noch Im Schatten des Zweifels, Marnie und Der zerrissene Vorhang bei meinen Pendenzen.
Der falsche Mann: Für mich eher enttäuschend. Ich erinnere mich, dass Hitchcock selbst hierzu meinte, es sei eben doch ein Fehler eine zu realistische Umsetzung einer auf Tatsachen basierenden Story zu inszenieren

Die rote Lola: Habe ich bis heute nicht gesehen obwohl ich es auch in der Collection habe

Bei Anruf Mord: Einer meiner Favorites aber auch weil ich es mal als Theaterstück inszeniert habe. Tolles Kammerspiel mit recht raffinierter Aufklärung. Ich mag den Film

Der fremde Zug: Spannend und stark gespielt; kann man sich gut angucken
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Re: Der Hitchcock Thread

88
GoldenProjectile hat geschrieben:@Anatol

Wie bewertest/empfiehlst du die Filme Der falsche Mann, Die rote Lola, Ich beichte, Bei Anruf Mord und Der Fremde im Zug?
Alles gute Filme die durch die Bank sehenswert sind. Für meinen Geschmack ist aber keiner der Filme Hitch-Oberklasse, aber was heisst das schon bei seinem Oevre. Der falsche Mann nimmt schon viele Motive von Hitchs "ernsten" Filmen ab Vertigo vorweg, er wirkt verglichen mit Filmen wie Vertigo, Psycho, Vögel oder Marnie aber noch deutlich trister und trostloser durch seinen fast schon dokumentarischen Ansatz. Aber dennoch sehr interessant, vor allem im Gesamtkontext von Hitchs Werk. Die rote Lola hat einen der wohl umstrittensten filmischen Kniffe aller Zeiten, mehr darf ich nicht sagen weil ich ansonsten die Überraschung verderbe. Man hat Hitch diesen Kniff häufig vorgeworfen, ich finde ihn genial, wie auch den ganzen Film sehr gelungen. Ich beichte ist sehr düster, was aber der Thematik absolut angemessen ist und zudem sehr gut gespielt (OE Hasse ist klasse). Bei Anruf Mord ist ein spannendes Kammerspiel, leidet aber etwas daran dass es weniger Spielfilm als mehr abgefilmtes Theaterstück ist. Ähnlich wie bei Cocktail für eine Leiche, nur dass es da ja ein bewusstes Stilmittel war, während Bei Anruf Mord eher einen unfreiwilligen Studiolook hat. Ist aber dennoch ein guter Film und verglichen mit den anderen von dir genannten wohl der leichteste und humorvollste. Der Fremde im Zug hat eine sehr interessante Thematik und einige sehr gut inszenierte Szenen, allerdings für meinen Geschmack auch einige Längen. Wie gesagt, gut sind aber alle genannten.

GoldenProjectile hat geschrieben:Aktuell habe ich neben Psycho und dem Mann, der zuviel wusste noch Im Schatten des Zweifels, Marnie und Der zerrissene Vorhang bei meinen Pendenzen.
Auch alles gute bis sehr gute Filme, da kannst du dich darauf freuen!
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Re: Der Hitchcock Thread

89
Die rote Lola: Ach herje, hab ich verwechelt. Dank Anatols Kommentar bzgl. des umstrittenen "Kniffes" ist mir wieder eingefallen, dass ich den Film kenne. Ja den finde ich sogar toll. Irgendwie verwechsele ich den Film in Gedanken immer ein wenig mit "Zeugin der Anklage"
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Re: Der Hitchcock Thread

90
Psycho 10/10

So wie ich das wahrnehme, bildet Psycho das absolute Aushängeschild von Hitchcocks quantitativ aber auch qualitativ sehr hochstehendem Lebenswerk. Es ist ein Film, der zu seiner Zeit wohl gewaltig polarisierte und auch heute noch zusammen mit den Vögeln am häufigsten genannt wird, wenn man jemanden nach Hitchcock fragt. Aber ist es berechtigt, seinen Ausnahmezustand einfach auf dem für das Jahr 1960 gewiss gigantischen Schockeffekt und der "Finanzierungskrise" in der Vorproduktion beruhen zu lassen, oder sollte man eine eigene Betrachtung aufgrund der erheblichen filmischen Qualität von Psycho vornehmen? Ein klares, lautes JA für Letzteres!

Psycho schafft bereits in den ersten 20 Minuten - die wohl zu den unscheinbarsten und am wenigsten beachteten gehören - eine Atmosphäre, die alles andere als selbstverständlich ist, deswegen eine kurze Fokussierung auf diese Einleitung: Es ist das gehetzte Gefühl, die verschwommene Wahrnehmung von Zeit und anderen Faktoren, der möglichst-weit-weg-Drang und die gesteigerte Sensibilität bzw. Misstrauen, das Hitchcock einem hier zusammen mit Marion empfinden lässt und das man kennt, wenn man schon mal Mist gebaut hat :wink: Man spürt förmlich, wie sie den Polizisten (Hau ab, ich habe meine Unschuld bewiesen, warum lässt du mich nicht in Ruhe?!) und den Autohändler (Hör auf zu nerven und gib mir einfach die gottverdammte Schrottlaube, ich will so schnell wie möglich weiter!) innerlich anschreit und gleichzeitig vor Spannung zittert, weil sie nur so schnell und sauber als möglich davonkommen möchte. Noch greifbarer wird die Atmosphäre durch die Dialoge der Freunde und Kollegen, die sich Marion während der Autofahrt ausmalt.

Seinen ganz grossen Trumpf spielt Hitchcock aber erst nach der ersten halben Stunde aus: es ist Anthony Perkins, in der Rolle des Norman Bates, und von seinem ersten Auftreten an kann man die Augen praktisch nicht mehr vom Geschehen abwenden. Egal ob er zwischen seinen ausgestopften Vögeln sitzt und stammelnd, wenn auch langsam Sicherheit fassend, mit Marion plaudert oder von der Kamera und Herrmanns Score (unterschwellig, bedrohlich, oftmals mehr ein dezentes, umrahmendes Geräusch als wirklich eine Melodie: grossartig!) begleitet den Tatort räumt - Hitchock und Perkins pumpen Spannung in ihrer reinsten Form in den Vorgang!

Brillant ist einfach nur, das Hitchcock ein Mysterium schafft. Was geht in dem Haus vor sich? Was ist mit Normans Mutter? Weshalb verhält sich Norman so eigenartig? Und natürlich wer hat den Mord begangen und aus welchem Grund? Und wie passt das alles zusammen? Es ist Suspense, gebettet auf einem Teppich aus Mystery und mit gelegentlichen Einschüben von Surprise (beide Mordszenen!). Ich finde dass die plötzliche Tötung des Detektivs den gewissen Nervenkitzeleffekt nochmal auf einen höhere Stufe befördert, und dies kaum dass man sich von der Duschszene erholt hat.

An diesem Punkt muss noch hinzugefügt werden dass die visuelle Kraft des Films diese verstörende und spannende Magie noch weiter treibt. Gerade wie der Treppenaufstieg des Privatdetektivs mit dem anschliessenden blitzschnellen Auftreten der mordenden Gestalt gefilmt wird - das ist Film! Etwas später wird ein "Dialog" im Zimmer ähnlich gut mit der Kamera eingefangen. Dass der Film in Schwarz-Weiss gedreht wurde empfinde ich übrigens als grosses Plus, denn auch dadurch wird die Atmosphäre gesteigert.

Im letzten Drittel macht Hitchcock seinen Film dann noch einmal so unverschämt spannend, dass sogar das Fenster im direkten Vergleich beinahe schon langweilig erscheint. Der Zuschauer weiss an diesem Punkt bereits mehr als Lila und Sam; er weiss dass Norman und das Haus ein gefährliches Geheimnis bergen, dass über die Vorstellungskraft der beiden hinausgeht. Gleichzeitig will er um jeden Preis herausfinden, was denn da genau vor sich geht (das war zumindest bei mir so). Aufgelöst wird schliesslich alles mit einem ordentlichen Schock, der perfekt zum vorherigen Geschehen passt.

Die Raffinesse besteht darin, dass Hitchcok die an und für sich simpel gestrickte Story (zumindest ab Marions Tod) clever dazu einsetzt, die Spannung aufzubauen und einen mehr und mehr in diesen erstklassig inszenierten Strudel aus Angst und Verstörung hineinzuziehen. Dieser Teil des Films könnte nicht besser sein - aber eigentlich trifft diese Aussage auf alle Teile zu.

Das Gutachten des Psychiaters ist keine Erklärung für Dummies sondern hilft uns als Zuschauer, die wir den Schock bzw. den Film noch nicht verarbeitet haben, alles noch einmal anzuschauen. Details, die uns im Verlaufe des Films vielleicht nur unterbewusst aufgefallen sind entfalten auf einmal eine adäquate Relevanz. Jetzt ergibt alles einen Sinn. Dass uns in der letzten Szene noch einmal Norman gezeigt wird, bildet einen würdigen Abschluss.

Was bleibt ist ein perfekt funktionierendes Zusammenspiel von Horror, Rätsel, Überraschung und Suspense mit einer minimalistisch-brillanten Inszenierung. Einer der besten Filme, die ich je gesehen habe.
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