Maibaum hat geschrieben: 2. Dezember 2022 12:25
Die neue #1 habe ich tatsächlich nie gesehen, und es ist auch ein Film der mich bislang nie groß interessiert hat.
Ich habe die neue #1 jetzt tatsächlich mal gesehen, einen sperrigen Film mit einem sperrigen Titel: "Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles". Mein geschätzter Ko-Moderator hat den weiter oben ganz salopp als Kartoffelschälfilm bezeichnet und ich bin mir nicht sicher, ob ihm bewusst ist, wie richtig er damit eigentlich liegt.
Man kann viel darüber lesen, erst recht seit der Sight & Sound Liste, es handle sich hier um ein zutiefst feministisches Werk, um einen Film, der das Hausfrausein in einer patriarchalen Herrschaftsordnung illustriert. Die visuelle Sprache dieses avantgardistischen Experimentalfilms ist eine extrem reduzierte. Es gibt keinerlei Kamera-Bewegung, nur statische, oft unerträglich lang durchgehaltene Einstellungen, die beinahe immer im direkten 90 Grad Winkel zu einer Wand im Hintergrund stehen. Der Film verzichtet gänzlich auf Spektakuläres und Fantastisches, auf alles, was als Puffer zwischen Film und Publikum dienen würde, und hinterlässt uns eine brutal ehrliche Darstellung eines vollkommen alltäglichen Lebens. Jeanne Dielman ist als Protagonistin also quasi die moderne Frau, die sich an die Rituale ihrer täglichen Pflichten klammert, um in einer männerdominierten Welt, die unaufhörlich gegen sie arbeitet, ein gewisses Maß an Kontrolle zu behalten.
210 Minuten geht das und so schaut man Dielman in Echtzeit dabei zu, wie sie Hack knetet, Kartoffeln schält, mit ihrem Sohn zu Abend isst und all das tut, was Hausfrauen halt eben den ganzen Tag im heimischen Gefängnis tun, erst recht, wenn sie keinen Partner haben, der im Haushalt helfen kann. Es geht noch eine kleine Spur weiter, denn Dielman ist nebenbei auch noch Prostituierte, empfängt Herrenbesuche und nimmt natürlich Geld dafür. Es wird wenig geredet, es passiert sogar noch weniger. Dielmans Leben besteht aus Wiederholung und Unterwerfung. Sie hat die Rollenerwartungen an sich als Frau gänzlich verinnerlicht, sie ist ganz und gar domestiziert. Bis ihre Routinen irgendwann durchbrochen werden, ihr beim Geschirrtrocknen eine Gabel auf den Fußboden fällt, sie mal beim Verlassen eines Raumes das Ausschalten des Lichts vergisst oder in ihrem Café ihr Stammplatz von einer anderen Frau belegt wird. In den letzten 10 Minuten führt das zu einer Kurzschlussreaktion ihrerseits, die für uns neutrale Betrachter völlig unverständlich ist, aber irgendwie auch Sinn ergibt.
Es ist schon eine harte Geduldsprobe, diesem Film ohne jedes Ereignis beizuwohnen. Dramaturgie wird völlig verleugnet. Filmzeit ist hier nicht erzählte Zeit, sondern erlebte Zeit. Man kann gewissermaßen konstatieren, dass Chantal Akerman als Regisseurin daran erinnert, wie vieles von dem, was Hausfrauen in ihren Routinen und Abläufen den lieben langen Tag machen, in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, weil sie es in den Innenräumen ihrer Wohnungen verrichten (müssen), während Kultur und Gesellschaft draußen stattfinden; ein Raum sind, von dem sie ausgeschlossen werden.
Hat mich das gepackt? Hmm, schwer zu sagen. Kann es packend sein, einer fremden Person weit über drei Stunden lang beim schnöden Haushalt zuzuschauen? Die Langeweile, die man verspürt, ist einkalkuliert, denn Akerman weiß, dass man von "Langeweile" bzw. Ereignislosigkeit nur erzählen kann, wenn man die Langeweile auch auf den Zuschauer überträgt. Sagen wir so, ich bin nicht traurig, "Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles" mal gesehen zu haben.
Ist es der beste Film aller Zeiten? Nein. Aber das sind "Vertigo" und "Citizen Kane" auch nicht. Und auch kein zukünftiger Film, den Sight & Sound als solchen küren werden.