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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Marvels Der unglaubliche Hulk
Der Plan eines großen voneinander abhängigen Comicuniversums im Filmformat, bei dem viele parallel existierende Einzelfranchises immer wieder aneinander anecken und in Crossovern zusammentreffen, klang bereits auf dem Papier gewagt, doch 2008 startete Produzent Kevin Feige sein ungewöhnliches Experiment mit dem Einführungsfilm zum ersten Teammitglied: Iron Man. Die Frage, wer als nächstes vorgestellt werden sollte, beantwortete er noch im selben Jahr mit "Marvels Der unglaubliche Hulk" und einer Verfilmung der bekannten Geschichte rund um den Wissenschaftler Bruce Banner, der bei einem Selbstexperiment etwas zu sehr von Gammastrahlung bestrahlt wird und sich daraufhin beim Anstieg seines Pulses in ein großes grünes Wutmonster verwandelt. Während man beim eisernen Mann noch relativ viel Spielraum besaß und dem Publikum einen weitgehend unbekannten Helden vorzustellen hatte, sah die Sachlage beim Hulk schon etwas anders aus, denn in den USA ist dieser einer der bekanntesten Superhelden überhaupt. Doch genau wie bei "Iron Man" sind es auch hier Regisseur und Hauptdarsteller, die aus dem klassischen Blockbuster etwas besonderes machen.
Der französische Regisseur Louis Leterrier verzichtet dabei im Gegensatz zu seinem Kollegen Jon Favreau auf eine ganz gravierende Eigenschaft: Sein Film versteht sich nicht als Origin-Story und will das auch gar nicht sein. Die Entstehungsgeschichte des Hulks ist ohnehin weitreichend bekannt und für alle, die nicht mit ihr vertraut sein sollten, wird im dreiminütigen Intro alles wichtige in kurzen Szenenbruchstücken zusammengefasst. Viel eher scheint Leterrier sich für das Innenleben seines Protagonisten und dem Konflikt zwischen Banner und seinem Alter Ego zu interessieren, das ein wenig an eine gespaltene Persönlichkeit oder den Literaturklassiker Jekyll und Hyde erinnert. In Folge dessen scheint auch die Besetzung des Helden durch den für dieses Genre eher untypischen Edward Norton absolut folgerichtig. Dieser versteht es die komplette Laufzeit über, mit seinem abgemagerten Äußeren den von Ängsten geplagten Flüchtling darzustellen und trotz seiner wilden Taten als Wutmonster stets tragische Identifikationsperson des Publikums zu bleiben. Ähnlich passend sind sonst nur William Hurt als mürrischer General nach bester Käptn Ahab Tradition und Tim Roth als besessener Antagonist besetzt, wobei besonders letzterer einige der besten Momente abbekommt. Liv Tyler ist in der weiblichen Hauptrolle leider akut fehlbesetzt und wirkt teilweise regelrecht aufgesetzt, zumal ihre Figur ohnehin nie so richtig im Film anzukommen scheint.
Wenn man an den Hulk denkt, dann denkt man aber nicht nur an großes Drama, obwohl das bei Leterrier dennoch nie vernachlässigt wird, sondern auch an massig Action und die gibt es demzufolge auch, wenn auch nie in dem Ausmaß, das man hätte erwarten dürfen. Eher könnte man sagen, dass "Marvels Der unglaubliche Hulk" sich in drei Abschnitte einteilen lässt, die jeweils mit einem Auftritt des Hulks enden und an ihre jeweilige Location gebunden sind. Nach dem Intro dient das erste Drittel in Brasilien vordringlich expositionellen Anliegen und mundet in einer wunderbar fotografierten und temporeichen Verfolgungsjagd durch das Armenviertel Rocinha Favela, welche in einem leeren Fabrikgelände zur ersten Konfrontation zwischen Pro- und Antagonist endet, auch, wenn beide hier noch nicht mit offenen Karten spielen. Im zweiten Drittel kehrt mehr Ruhe ein und die zarte Liebesgeschichte darf sich entfalten, bis dann die großartige Sequenz auf dem Campusgelände folgt, die das erste Mal den Hulk in voller Montur zeigt und auch durch den starken und Blockbuster untypischen Soundtrack von Craig Armstrong besonders an Druck gewinnt. Im Showdown spitzt sich das Tempo dann vorbildlich zu und der finale Kampf zwischen dem Hulk und der Abomination ist möglicherweise etwas too much für den ein oder anderen, aber tricktechnisch toll gemacht und der einzig logische Abschluss für das, was wir in den vorherigen Anderthalb Stunden zu sehen bekommen haben. Müsste man angehenden Jungregisseuren anhand eines Filmes erklären, wie man einen klassischen Blockbuster aufbauen sollte in Bezug auf die Spannungskurve, das Verhältnis von Action in Relationen zur Laufzeit und der Zu- bzw. Abnahme von Tempo und Dynamik: Letteriers Hulk wäre nicht unbedingt der verkehrteste Kandidat dafür!
Eins sollte noch gesagt werden: Zwar ist "Der unglaubliche Hulk" fantasievoll, schnell erzählt und traut sich sogar ein wenig schmutzig und dreckig zu sein, aber dennoch bleibt es bei allen Ambitionen ein Unterhaltungsfilm für Kinobesucher. Und als dieser ist es nun einmal beinahe unmöglich, allen Aspekten der Handlung den Raum und Platz zu geben, den sie verdienen würden. So wirken sich Banners Traumata nur wenig auf seine Persönlichkeit aus und die extreme Wandlung von Tim Roths Emil Blonsky zur Abomination ist dann sehr schnell vollzogen. Um dem allen gerecht zu werden, reichen 120 Minuten einfach nicht aus. Und so hätte es "Marvels Der unglaubliche Hulk" definitiv gut getan, mindestens mit einer zusätzlichen halben Stunde gesegnet zu sein. Doch auch das gesehene vermag meist zu überzeugen und selbst wenn vieles nur andeutungsweise vorhanden ist, kann der Film es durch sein Tempo und durch seine anderen positiven Attribute ausgleichen.
Fazit: Zu kurz um allen Handlungselementen gerecht zu werden, aber genau passend für einen vergnüglichen Samstagabend, um sich mit Freunden von der Zerstörungswut brachialer Monster erschlagen und von den leisen Tönen der Handlung überraschen zu lassen. So oder so ähnlich könnte man Marvels zweite Runde des Marvel Cinematic Universes beschreiben, welche besonders in dem ersten winzigen Crossover in der letzten Szene bereits einen guten Ausblick darauf gibt, wie das ganze aussehen könnte, wenn der Masterplan eines Tages aufgeht. Bis dahin kann man an den wenigen Schwächen im Konzept sicher noch feilen. "Marvels Der unglaubliche Hulk" zeigt aber schon einmal sehr gut auf, wie ein gelungener Mix aus Story und Action aussehen könnte, wenn man mit der nötigen Ernsthaftigkeit an eine so absurde Grundlage, wie ein Comicheft es ist, herangeht.
8/10
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Let the sheep out, kid.