Daniels 90er Thriller

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I. Das Genre – Vorwort

Mein erster echter Kinobesuch mit Freunden war 1991 – es lief „Robin Hood – König der Diebe“. Ich war dreizehn Jahre alt, und da mir nicht klar war, dass dem eigentlichen Film ein etwa 30-minütiger Werbeblock vorausgehen würde, hatte ich mit meiner Mutter einen viel zu frühen Abholtermin vereinbart. Es kam, wie es kommen musste: Noch vor dem Showdown musste ich das Kino verlassen. So ärgerlich dieser Werbeblock für mein erstes Kinoerlebnis auch war – in den folgenden Jahren wurde er zu einem prägenden Bestandteil meiner Filmleidenschaft.

Mit Freunden (und manchmal auch allein) saß ich ab Mitte der 90er fast jedes Wochenende im Kino. Die Vorfreude auf die Filme, die in diesen Werbeblöcken angekündigt wurden, wurde schnell zu einem festen Bestandteil des Gesamterlebnisses. Man wusste einfach, was in den nächsten zwölf Monaten auf einen zukam. Damals wurden Trailer noch von Sprechern begleitet, was dazu führte, dass einem die Namen der Filme und Stars besonders im Gedächtnis blieben.

Die Jahre 1995 bis 2005 wurden für mich zu den prägenden Kinojahren. Über 300 Filme – viele davon mehrmals – habe ich in dieser Zeit im Kino gesehen. Was man verpasste oder wofür das Taschengeld nicht reichte, wurde später auf VHS nachgeholt.

Erst in den letzten Jahren ist mir bewusst geworden, wie stark mich diese Zeit geprägt hat. Zum einen, weil man sich immer besonders an seine Jugendzeit erinnert und dabei die Qualität der Filme vielleicht etwas verklärt. Zum anderen aber, weil sich die Kino- und Filmlandschaft im neuen Jahrtausend stark verändert hat – wodurch ich die Besonderheiten der Filme aus dieser Ära erst wirklich erkannt habe.
Rückblickend (und verstärkt durch unzählige TV-Wiederholungen sowie Streamingangebote) wurde mir klar, dass gerade in dieser Zeit eine Vielzahl von Filmen entstanden ist, die sich ähnlich anfühlen – Filme, wie es sie heute immer seltener gibt oder die ganz aus dem Kino verschwunden sind. Das vorliegende Buch ist der Versuch, dieses Genre zu greifen.

Ich bezeichne dieses Genre vereinfacht als den „90er-Thriller“. Natürlich gab es in den 90ern nicht nur Thriller, natürlich waren nicht alle davon besonders gut, und natürlich sind einige typische Filme der Zeit streng genommen keine Thriller. Dennoch gibt es viele Gemeinsamkeiten, die für mich ein eigenes Genre definieren. Es geht hier nicht um die größten Blockbuster der 90er – Sie werden keinen Spielberg-Film finden. Dieses Buch ist den gut gemachten Brot-und-Butter-Thrillern der Zeit gewidmet.

Inhaltlich vereint diese Filme ein tiefes Misstrauen gegenüber Macht, Institutionen und scheinbar stabilen Beziehungen – sei es in Justiz, Regierung, Militär, Konzernen oder der eigenen Ehe. Themen wie Verrat, Lügen, doppelte Identitäten und moralische Grauzonen stehen im Vordergrund. Meist kämpft eine einzelne Figur gegen ein übermächtiges System oder eine perfide Intrige.

Visuell dominieren kühle Farbtöne, sterile Räume, Glasfassaden, Regen und ein oft urbanes, anonymes Setting, das emotionale Kälte und Isolation unterstreicht. Stilistisch sind sie meist nüchtern inszeniert, mit pointiertem Spannungsaufbau, plötzlichen Wendungen und einem betont „erwachsenen“ Ton – häufig ergänzt durch erotische Spannung oder psychologische Abgründe.

Diese Filme spiegeln ein Kino wider, das intellektuelle Spannung und moralische Ambivalenz über schnelle Action stellt – und dabei das Misstrauen der 90er gegenüber Technik, Politik und Intimität aufgreift.

Was kennzeichnet diese Filme äußerlich?
• Top-Darsteller: In der Regel sind zwei große Stars in den Hauptrollen zu sehen – allerdings selten als Paar, sondern meist als Ermittlerduo, in einer Beschützer-Opfer-Konstellation oder als klassisches Protagonist-Antagonist-Duo. Hinzu kommen hochkarätige Nebenrollen, oft gespielt von Schauspielern, die entweder bereits etabliert waren oder in dieser Zeit ihren Durchbruch hatten. Die schauspielerische Leistung ist besonders wichtig, da diese Filme sehr dialoglastig sind und auch ohne große Action stets spannend bleiben.
• Knackige Laufzeit: Die Filme dauern meist zwischen 105 und 130 Minuten – genug Zeit für komplexe Verschwörungen, moralische Dilemmata und persönliche Verwicklungen, ohne das Publikum zu überfordern. Besonders im Vergleich zur heutigen Streaming-Ära fällt das auf: Filme über 140 Minuten waren im Thrillerbereich damals selten – es fehlte ihnen schlicht die epische Breite, wie sie etwa Polit- oder Kriegsfilme erfordern. Heute wirken solch kurze Laufzeiten fast undenkbar, selbst bei Filmen mit dünner Handlung.
• Unbedingte Mainstream-Kompatibilität: Diese Thriller sind in ihrer Machart ausgewogen. Sie sind spannend, aber nie übermäßig nervenaufreibend. Es gibt Action-Elemente, doch keine überzogene Gewalt wie in klassischen Actionfilmen der Zeit (à la Schwarzenegger, Stallone, Willis). Es gibt persönliche Komponenten, aber ohne melodramatisch zu werden. Humor ist vorhanden, aber nie dominierend. Meist gibt es im Showdown eine überraschende Wendung oder zumindest eine klare Auflösung. Manche Filme enthalten auch erotische Elemente – „Basic Instinct“ etwa begründete ein eigenes Subgenre.

Wiederkehrende Subgenres sind:
• Justizthriller, gelegentlich mit militärischem Hintergrund
• Politthriller mit Präsidenten, Regierungsintrigen und Verschwörungen
• Psychothriller rund um Serienkiller
• Polizeithriller mit internen Ermittlungen
• Thriller mit erotischen Elementen

Der 90er-Thriller entwickelte sich aus dem US-Kino der 70er und 80er, das stark von gesellschaftlichem Misstrauen geprägt war – Filme wie Die drei Tage des Condor, The Parallax View oder Die Unbestechlichen legten den Grundstein für das Genre. In den 80ern wurde es körperlicher und kommerzieller: Filme wie Body Heat, Fatal Attraction oder Lethal Weapon führten neue Erzählformen ein – mit mehr persönlichem Risiko, sexueller Spannung und moralischer Ambivalenz.

In den 90ern fand das Genre zu einer hochglanzpolierten Form zwischen Gerichtssaal, Schlafzimmer und Regierungskulisse – kühl, präzise, oft starbesetzt und stilistisch markant. Während in den 70ern das System von außen infrage gestellt wurde, zeigen die 90er-Thriller die Korruption von innen – durch Anwälte, CEOs, Präsidenten oder Ehepartner. Es war ein Kino der relativen Stabilität, in dem das Böse nicht mehr draußen lauerte, sondern hinter verschlossenen Türen.

Nach 9/11 verlor das Genre an kultureller Relevanz. Das Misstrauen gegenüber Institutionen verschob sich von fiktiver Intrige zu realer Bedrohung. Hollywood fokussierte sich zunehmend auf Terrorismus, Überwachung und Krieg – innere Konflikte wichen klaren Feindbildern. Komplexe Erzählungen wanderten ins Fernsehen und später in Streamingserien ab. Schließlich verdrängten Superheldenfilme und Franchises die Mid-Budget-Thriller aus den Multiplexen – sie versprachen mehr Spektakel bei höherer Rendite.

Abschließend sei gesagt: Natürlich hat jede Zeit ihre eigenen Filme. Es geht hier nicht darum, ein ganzes Jahrzehnt zu glorifizieren. Viele der besprochenen Filme waren keine großen Kassenschlager und wurden nicht zu Klassikern. Aber fast alle haben ein solides Niveau und einen hohen Unterhaltungswert. Was ich besonders schätze, ist die Verlässlichkeit, mit der damals einfach gut erzählte Filme produziert wurden. Ich wage zu behaupten: Die meisten der heute noch wirklich großen Hollywood-Stars stammen aus dieser Zeit. Auch deshalb vermisse ich sie so.
"It's been a long time - and finally, here we are"