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Schach, Jazz und Split-Screen

Verfasst: 22. Juli 2021 20:28
von Casino Hille
Thomas Crown ist nicht zu fassen

Beide setzen einen Läufer in die Mitte des Spielbretts. Jeder lässt abwechselnd einen Springer folgen. Sie sehen sich an, erlauben sich ein Schmunzeln. Dann aber: Herausfordernde Blicke. Er beginnt zu schwitzen, blick auf, sieht, wie sie mit ihren langen, lackierten Fingernägeln ihr Abendkleid ein wenig lockert. Wieder sucht er die Konzentration, vergeblich. Ratlos setzt er den König ein Feld nach rechts. Die Kamera zeigt die Gesichter in einer Großaufnahme. Dann nur die Augen. Dann ihre Lippen. Sie fasst an den Läufer, umspielt ihn mit den Fingern. Auf und ab. Während er sich auf seinen nächsten Zug konzentriert, schiebt sie unter dem Tisch ihr Bein vor, schmiegt ihr Knie an seinem Schoß. Schließlich sagt sie laut: „Schach.“ Er ist geschlagen, steht auf, scheint über das Spiel zu grübeln. Dann geht er zu ihr, hebt sie aus ihrem Stuhl, spricht: „Wir spielen etwas anderes.“ Ihre Lippen berühren sich, es folgen Küsse im Gegenlicht. Fünfundfünfzig Sekunden lang küssen sie sich, weiß der Filmexperte. Denn dieser Kuss war 1968 der bis dato längste Kuss in der Geschichte des Kinos – die Darsteller Steve McQueen und Faye Dunaway brauchten dafür acht Stunden, über drei Drehtage verteilt.

Famos ist, wie Regisseur Norman Jewison die Szene auflöst: Während sich die zwei Akteure ganz ineinander verlieren, ihre Küsse immer schneller, ihre Bewegungen wilder werden, verschwimmt die Szenerie in bunten Farben, bis auch McQueen und Dunaway in den Farben verschwinden, in einem psychedelischen Ornament, wie es damals parallel auf der Leinwand auch in „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick zu sehen war. Bei Kubrick symbolisierte der Rausch aus Licht und Kolorierung die Reise eines Astronauten über die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft hinaus, bei Jewison sind die verschmelzenden Farbtöne leichter zu begreifen: Sie simulieren den Orgasmus beim Liebesspiel. „In Filmen ist Stil der Inhalt“, definierte Jewison sein Credo, und mit der Kriminalkomödie „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte er dieses Prinzip zur obersten Maxime. Sein Klassiker, der unlängst als Prototyp eines ganzen Genres angesehen wird, ist aus moderner Sicht ganz als Zeitgeist-Wiedergabe zu verstehen. Er entführt in die Swinging Sixties, filmisch und modisch.

Für Letzteres reicht es, die Garderobe zu begutachten, mit der Faye Dunaway für den Film eingekleidet wurde. Erst ein Jahr zuvor war sie durch ihre Hauptrolle im Gangsterdrama „Bonnie und Clyde“ berühmt geworden, doch „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ machte sie zur Stilikone. Schick und vor allem sexy verkörpert sie eine Versicherungsdetektivin, die nach einem perfekt orchestrierten Banküberfall den Drahtzieher ermitteln soll. Ihr Verdacht führt sie zu Thomas Crown, einem angesehenen Millionär mit Gentleman-Attitüde. Und weil schon ihr erster Auftritt im Film an einem Flughafen, an dem sie den Kommissar der örtlichen Polizei von der ersten Sekunde an felsenfest im Griff hat, zeigt, wie selbstsicher und furchtlos diese brillante Ermittlerin sich durchzuschlagen weiß, konfrontiert sie Crown bei der ersten Gelegenheit mit ihrer Vermutung. Wie er darauf reagiert? Abstreiten tut er es nicht.

Norman Jewison hatte noch ein Jahr zuvor mit dem Rassismusdrama „In der Hitze der Nacht“ fünf Oscars gewonnen, u.a. in der Hauptkategorie als ‚Bester Film‘. Für sein nächstes Projekt engagierte er Alan Trustman, einen Quereinsteiger in der Filmwelt, um ein Drehbuch für ein Heist-Movie, einen Film mit einem Raubüberfall im Zentrum, zu schreiben, wie sie zu dieser Zeit besonders beliebt waren. Doch Trustmans Script unterscheidet sich stark von anderen Genre-Vertretern: Der große Banküberfall, der minutiös geplante und reibungslos durchgeführte Coup, ist an den Anfang gestellt. Fünf verschiedene Gauner werden von einem geheimnisvoll-unbekannten Auftraggeber instruiert, und begehen das perfekte Verbrechen, ohne sich vorher je begegnet zu sein.

Um das ideale Zusammenspiel der Kriminellen zu veranschaulichen, setzte Jewison auf die sogenannte Split-Screen-Technik. Soll heißen: Der Bildschirm teilt sich in verschiedene kastenförmige Segmente, in denen unterschiedliche Handlungen gezeigt werden. Die Virtuosität, mit der so eine der spannendsten Montage-Sequenzen des 60er-Jahre-Kinos erzeugt wurde, ist nahezu berauschend. Die Auftrennung der verschiedenen Aktionen auf Teileinheiten des Gesamtbildes entwickelt einen fulminanten Rhythmus, war ihrer Zeit voraus. Erst 2001 erlebte diese filmische Rhetorik ihre Renaissance, als sie durch die actionreiche TV-Serie „24“ zu neuer Berühmtheit kam.

Darauffolgend widmet sich „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ dem Beziehungsspiel seiner Protagonisten. Für den oft als ‚King of Cool‘ bezeichneten Steve McQueen wurde die Titelrolle zu einer seiner populärsten Darbietungen, und zurecht, denn mit seiner wunderbar sensiblen Performance spielt er kräftig gegen sein Image: Die eiskalte Coolness ist ihm natürlich ins Gesicht geschrieben, doch selten sieht man McQueen so oft sowohl grübelnd und nachdenklich als auch ausgelassen lachend wie in diesem Film. Ursprünglich hatte Trustman beim Schreiben noch Sean Connery für den Part vor Augen, schrieb manche Szenen später um, machte sie für McQueen passend. Besonders prägnant für die Zeichnung der Figur ist eine Szene nach dem geglückten Raubüberfall, als er sich breit grinsend im Spiegel selbst zuprostet. Der deutsche Verleih lag deshalb ganz richtig damit, den eher banalen Originaltitel „The Thomas Crown Affair“, also: „Die Thomas Crown Affäre“, durch den schwungvolleren „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ zu ersetzen.

So ganz greifen lässt sich die Crown-Figur nämlich nicht. Einem echten Motiv für den Banküberfall bleibt er schuldig. Purer Nervenkitzel treibt ihn an, er ist ein Mann, der von seinem Leben in Extravaganz und Wohlstand gelangweilt ist. Er fährt einen schmucken Rolls-Royce, trägt die teuersten Sonnenbrillen, raucht die luxuriösesten Zigaretten, doch es fehlt ihm Befriedigung. Einmal kreist er mit seinem Segelflugzeug ziellos durch die Lüfte. Ursprünglich sollte diese Szene mit „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles unterlegt werden, erst spät entschied man sich für den eigens komponierten Song „Windmills of your Mind“, gesungen von Noel Harrison, der schon in der anfänglichen Titelsequenz zu hören war und einen Oscar für das ‚Beste Filmlied‘ erhielt. Der melancholische Text gibt die Leere in Thomas Crown hervorragend wieder: „Rund wie eine Uhr, deren Zeiger über die Minuten ihres Ziffernblatts fegen. Und die Welt ist wie ein Apfel, der lautlos im Raum wirbelt, wie die Kreise, die du in den Windmühlen deines Geistes findest!“

Wenn er und Faye Dunaway, deren gemeinsame Chemie vor sexueller Spannung geradezu prickelt, gemeinsam in einem Buggy über den Strand jagen, ergötzt und verliebt sich die formal exzellent geführte Kamera von Haskell Wexler in den zur Schau gestellten Luxus, so wie auch Dunaways Charakter sich von Crown mehr und mehr verführen lässt. Genial also die Besetzung der Frau, die durch „Bonnie und Clyde“ zu einer Identifikationsfigur der damals rebellierenden Jugend wurde: In „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ergibt sie sich nun dem Prunk des Establishments. Die soziale Realität wird ausgeblendet, der schnöde Alltag ist vergessen, und der Eskapismus formvollendet. Der Stil wird ganz zum Inhalt, wie Jewison es anstrebte.

Die zeitgenössische Kritik warf dem 102-minütigen Film wohl auch deshalb seine Oberflächlichkeit vor, seinen Hochglanz, aber aus einem Missverständnis heraus. Jewison drehte keinen Hochspannungsthriller, kein so gern herauf beschworenes fintenreiches Katz-und-Mausspiel. In Wahrheit gibt die lässige, Piano-lastige Filmmusik von Michel Legrand den Takt vor: „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ ist kinematografischer Jazz. So mag es ungestüm, selbstzweckhaft erscheinen, wenn die Split-Screen-Technik in einer Szene bei einem Polospiel einzelne Aufnahmen verzigfacht, dasselbe Bild sechzigmal zugleich gezeigt wird, es ist jedoch Ursprung der filmisch gewünschten Attitüde: Dynamik wird wo immer möglich forciert, rasante, beinahe improvisiert-wirkende Tempiwechsel erzeugen Aufmerksamkeit, die Dialoge sind frivol, verwegen. Das Drehbuch sucht nicht immer nach der inneren Logik, dem tieferen Sinn. Dieser Film will erlebt und gefühlt werden. Ein intellektueller Zugang ist fehl am Platz, schließlich wird symbolträchtig selbst Schach, das edle Spiel der Könige, das Kräftemessen großer Denker und Strategen, zum erotischen Duell umfunktioniert.

Und wie so oft beim Jazz endet auch Jewisons Film auf einer bitteren letzten Note. Beim Versuch, dem von ihr mittlerweile verehrten Millionär eine Falle zu stellen, ist Dunaways Figur in seine getappt. Sie endet weinend, betrogen, ausgetrickst. Anders als in der ironischer angelegten Neuverfilmung von 1999, in den zentralen Rollen mit Pierce Brosnan und Rene Russo besetzt, wartet man dementsprechend vergeblich auf die glückliche Auflösung für das Filmpaar. „Die Thomas Crown Affäre“, eine Liaison mit dem Gentleman-Ganoven, davon durfte geträumt werden, der deutsche Filmtitel aber triumphiert, wie auch die Protagonistin einsehen muss: Dieser Mann ist wirklich nicht zu fassen.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 22. Juli 2021 22:22
von vodkamartini
Sehr schöner Text, die Jazz Allegorie sehr treffend. Hat Spaß gemacht zu lesen, auch wenn ich persönlich das Remake favorisiere. Hab wieder mal Lust den zu sehen, was einiges heißt, denn ich hab ihn so bei 6/10 abgespeichert und gerade die Chemie zwischen McQueen und Dunaway vermisst.;)

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 23. Juli 2021 07:49
von Revoked
Genialer Text. Hab direkt Lust den Film mal wieder zu schauen. Hatte letztes Jahr mal eine kleine McQueen Review gestartet (Papillon, Bullit, Gesprengte Ketten, Le Mans), aber nichts dazu geschrieben. Er ist und bleibt der coolste M‘fu*er der je auf diesem Planten wandelte. Alles was Craig an Klamotten und Accessoires als Bond getragen hat, hat man meist schon an McQueen gesehen.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 23. Juli 2021 08:01
von vodkamartini
King of Cool eben. Nicht nur ein Slogan. Bullitt hab ich erst vor ein paar Monaten gesichtet und reviewt, einer meiner Lieblings Cop-Thriller.

Wobei man sagen muss, dass nicht alles auf McQueen selbst zurück zu führen ist. Die Garderobe für Bullitt hat z.B. Regisseur Yates ausgewählt (und auch ein gewisser Terence Young war maßgeblich daran beteiligt, dass ein früherer Milchmann plötzlich der coolste Mann auf dem Planeten wurde :D ).

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 23. Juli 2021 08:31
von Revoked
vodkamartini hat geschrieben: 23. Juli 2021 08:01 ...
Wobei man sagen muss, dass nicht alles auf McQueen selbst zurück zu führen ist.
...
Auf jeden Fall. 50% der Klamotten ist 60s Mod-Mode aus London, die ja auch einige Bands getragen haben (The Who, The Small Faces etc.).

Aber an niemandem saßen die Sachen besser als an....

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 23. Juli 2021 11:39
von Casino Hille
vodkamartini hat geschrieben: 22. Juli 2021 15:03 Denn als Filmkritiker ist man in der schreibenden Zunft tätig und da gibt es nur eine Todsünde: seine Leser zu langweilen. Mich interessiert oft nicht so sehr irgendeine Meinung von irgendeinem Schreiberling, sondern weit mehr wie er seine Meinung präsentiert. Leider ist diese Kunst offenbar immer weniger gefragt und ich überfliege die allermeisten Filmkritiken in den Tageszeitungen nur noch, das sie gefühlt immer dieselben Adjektive und Satzkonstruktionen verwenden und kaum eine eigene Handschrift erkennen lassen. Ich habe immer öfter das Gefühl, dass es vielen Redaktionen völlig genügt, wenn ihr Stammschreiberling irgendetwas zu einem Film abliefert, damit der Film besprochen wurde.
Da stimmen wir zu 100 Prozent überein. Von Berufswegen bin ich ja zumindest ein wenig in diesen Kreisen unterwegs, und es stimmt schon, dass der Trend (zumindest dort, wo ich es mitbekomme) in den Redaktionen vorherrscht, bloßes Service-Geschreibsel zu erledigen und dabei bloß nicht allzu kontrovers oder provokant zu sein. Es fehlt da aber nicht nur in den Verlagshäusern der Wille zu gutgeschriebener Filmkritik, sondern auch bei den Lesern die Wertschätzung für diese Art von Texten – das ist die traurige andere Seite der Medaille. Dieses Forum ist da gewissermaßen eine kleine Oase, in der einige wenige ein bisschen anders gepolt sind und den Aufwand hinter dieser Art von Arbeit und Auseinandersetzung zu schätzen wissen.
Revoked hat geschrieben: 23. Juli 2021 07:49 Genialer Text. Hab direkt Lust den Film mal wieder zu schauen.
Danke dir, so soll es sein! :D Ich kannte bislang nur das Remake von John McTiernan, welches ich (wie geschrieben) als sehr viel ironischer empfinde, auch als leichtfüßiger. Natürlich ist das Original auch leichte Kost, aber der Jazz-Appeal, den ich darin sehe, diese atmosphärische Mixtur aus Lässigkeit und Melancholie, und natürlich die High-Concept-Attitüde mancher Szenengestaltungen, lassen es schon wie einen "ernsteren" und seriöseren Film wirken. Mir gefallen beide Ansätze, aber ich denke, mich hat das Original mehr berührt und bewegt. Ich bin aber auch leicht mit solchen Momenten wie dem Segelflug untermalt mit "Windmills of your Mind" zu bekommen, und wenn am Ende die bezaubernde Dunaway mit wässrigen Rehaugen die letzte Nachricht von Thomas Crown zerreißt, da springt bei mir leicht der Funke über. :) Und du hast recht, Steve McQueen ist die Coolness in Person, ganz oben auf dem Podest (mit Humphrey, of course!). Ich mag es aber, dass er hier nicht nur der rotzcoole Obermacker ist, sondern auch eine Sensibilität in seiner Darstellung zu erkennen ist. Sein letzter Blick in der Schlussszene ist phänomenal gespielt.
vodkamartini hat geschrieben: 22. Juli 2021 22:22 Sehr schöner Text, die Jazz Allegorie sehr treffend.
Die Musik stößt mich ein wenig in diese Richtung. Ich lege viel Wert auf gute Filmmusik und Michel Legrand, der als Jazz-Pianist mit einigen Großen dieser Musik-Gattung gearbeitet hat, setzt den Ton hier wie ich finde so unverkennbar, dass es die Geisteshaltung des Films mitbestimmt. Das ist dann ja auch irgendwo schön, wenn ein dominantes Element so unverwechselbar und so hervorragend ist, dass es dem Gesamteindruck einen gewaltigen Stempel aufdrückt. Davon ab steh ich auf Filme, die ihre "Gemütlichkeit" (in Ermangelung eines besseren Begriffs) so demonstrativ nach außen tragen, deshalb mausert sich ja auch "Ocean's Eleven" von Soderbergh mehr und mehr zu einem meiner Favoriten. Ich verstehe aber auch, wenn jemand das Remake mehr mag, und gerade bei der Chemie zwischen den Darstellern ist eh alles ganz hochgradig subjektiv. :wink: Für mich passt die gute Faye an die Seite vom 'King of Cool', bzw. denke ich, wenn eine eine Chance hätte, ihn weich zu kriegen, dann die. :mrgreen: Das funktioniert für mich hier auch etwas besser als in "Cincinnati Kid", auch von Jewison, auch mit McQueen, in dem es zwischen Steve und Ann-Margret nicht so wirklich überzeugend knistert, für mein Verständnis.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 27. Juli 2021 12:13
von HCN007
Habe über die letzten Tage seit Samstag Abend mal ein paar Filme, die direkt fürs Heimkino veröffentlicht worden sind nachgeholt. Sofern ich mir am Wochenende Zeit frei machen kann um ein paar Zeilen dazu zu schreiben, dann natürlich auch in gewissem Rahmen ausführlich:
- Palm Springs
- Made in Italy
- Honest Thief
- Arctic

Darüber hinaus habe ich in den letzten Monaten in diesem Bereich auch Filme wie "Capone", "Boss Level" und "Fukushima" gesehen.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 31. Juli 2021 11:38
von HCN007
iHaveCNit: Wer wir sind und wer wir waren (2021) – William Nicholson – Tobis
Deutscher Kinostart: 29.07.2021
gesehen am 30.07.2021
Arthouse Kinos Frankfurt – Cinema Studio – Reihe 3, Sitz 1 – 20:15 Uhr


Klassisches Darstellerkino vor einer schönen Kulisse stand als nächstes auf meiner Liste. Irgendwann kurz vor der Schließung der Kinos letzten Oktober habe ich den Trailer zu „Wer wir sind und wer wir waren“ im Kino gesehen und seitdem auch ein wenig im Hinterkopf behalten. Nun in einem unglaublich vollgestopften Kinostartwochenende des 29.07.2021 war „Wer wir sind und wer wir waren“ einer der interessanten Filme, die ich mir angesehen habe.

Edward und Grace sind seit knapp 29 Jahren verheiratet und leben an der Südküste Englands im Örtchen „Seaford“. Während er als Geschichtslehrer in seiner Freizeit gerne damit beschäftigt ist, geschichtliche Wikipedia-Einträge auf Fehler zu prüfen, ist sie im Ruhestand und arbeitet an einer großen Anthologie mit Gedichten. Edward hat den Sohnemann Jamie aus London für ein Wochenende eingeladen. An diesem Wochenende offenbart er sowohl seinem Jamie als auch Grace, dass er sich in eine andere Frau verliebt ist und aus dem gemeinsamen Haus auszieht. Das führt zu Konflikten, die schon lange Zeit in der Ehe geschwelt haben.

William Nicholson, der Regisseur und Drehbuchautor, inszeniert hier das Ende einer 29-jährigen Ehe als poetisches und intensives Kammerspiel, dass sich nicht nur auf das Haus der Familie, sondern auch auf die malerische Kulisse des Örtchens Seaford an der Südküste Englands mit schönen Kalksandsteindünen, die auf der Kamera so großartig eingefangen worden sind, dass ich für die Zukunft sogar darüber nachdenke, einen entspannenden Urlaub vor Ort zu machen. Im Kern und Fokus des Films steht aber vor allem das sehr gut aufspielende Trio aus Annette Bening, Bill Nighy und Josh O´Connor, die den Film mit Leben füllen. Bei all den intensiven Dialogen über Eheprobleme, die auch mal bedeutungsschwanger mit Poesie und Lyrik unterfüttert und auch mal per Voice-Over unterlegt werden, wirkt der Film stellenweise zu gestelzt und will cleverer sein als er letztendlich wirkt. Des weiteren kommt es durchaus auch mal zu konstruierten Handlungselementen, die etwas forciert wirken – eben weil das zu einem Familiendrama vor dem Hintergrund einer Trennung gehören sollte. Trotz allem hat mir der Film gefallen.

„Wer wir sind und wer wir waren“ - My First Look –7/10 Punkte.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 1. August 2021 10:38
von HCN007
iHaveCNit: Home (2021) – Franka Potente – Weltkino
Deutscher Kinostart: 29.07.2021
gesehen am 31.07.2021
Arthouse Kinos Frankfurt – Kleine Harmonie – Reihe 1, Sitz 9 – 20:15 Uhr


Ein weiterer kleiner und sehr feiner Film, der am aktuellen Kinostartwochenende startet ist das Langfilmdebüt der deutschen Schauspielerin Franka Potente. „Home“ ist ein sehr bodenständiges, warmherziges Drama geworden.

Marvin Hacks hat vor 17 Jahren in seinem Heimatort Newhall eine Frau ermordet und kommt nach eben diesen 17 Jahren aus der Haftstrafe entlassen wird und in seinen Heimatort zurückkehrt. Dort kümmert er sich nicht nur um seine unheilbar krebskranke Mutter – er muss sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellen, da zwischen abgesessener Strafe und Genugtuung immer noch Welten liegen und ein paar Personen in seinem Heimatort die Tat nicht vergessen haben. Darunter die betroffene Familie, bei der er sich mit der jungen Delta annähert.

„Home“ ist ein Film, der mich rundum begeistert und emotional bekommen hat. Die Geschichte um Marvin Hacks ist eine sehr bodenständige, ruhige, unpathetische, warmherzige aber auch stellenweise sentimentale Geschichte geworden. Jake McLaughlin spielt hier Marvin Hacks mit einer sehr intensiven und feinfühligen Präsenz. Seine Mutter wird hier großartig von Kathy Bates gespielt. Eine weitere Rolle, die mir hier sehr gut gefallen hat war die von Aisling Franciosi gespielte Delta Flintow, die noch sehr jung war als die Tat passiert ist und sich dementsprechend langsam Marvin annähert. Der Film selbst bietet eine große Bandbreite an witzigen, ausgelassenen aber auch tragischen und traurigen Momenten. Gerade in seiner Thematik über das Vergeben und Vergessen reißt er ein interessantes Spannungsfeld an. Die Verurteilung einer Straftat und das Erfüllen des Strafmaßes ist das Eine, Genugtuung für die Betroffenen das Andere – und diesem Spannungsfeld begegnen auch wir als Gesellschaft immer wieder. Und hier reißt der Film natürlich auch noch das Thema an, was einem bestraften Beteiligten nach Absitzen der Strafe überhaupt noch bleibt außer sich zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten. Insgesamt hat mir der Film wie bereits eingangs erwähnt gefallen und ist von meiner Seite aus ein kleiner, feiner Tipp, für den ich mich auch erst spontan entschieden – und die Entscheidung nicht bereut habe.

„Home“ - My First Look – 8/10 Punkte.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 1. August 2021 19:58
von danielcc
Habe soeben spontan Polanskis Gott des Gemetzels geschaut und bin begeistert.
Einfach wunderbar wie hier unzählige verbale Trigger zu einem Diskussions-Crescendo führen, in dem sich ständig neue Konstellationen von temporären "Verbündeten" ergeben und nach und nach jeder anfangs so gefestigt erscheinende Charakter entblößt wird.
Schön fand ich zudem, wie man den Film wunderbar auch politisch sehen kann. Ich habe mir zwischendurch vorgestellt, ob nicht so auch eine Diskussion zwischen Anna Lena Baerbock, Putin, Bolsonaro und Trump ablaufen würde 😊

Schauspielerisch war ich hier von Waltz am meisten beeindruckt der unter Polanskis Regie mal ganz beherrscht agiert und kein bisschen chargiert (auch seine eigene Synchro ist sehr feinfühlig!). Jodie Foster fällt immer mal wieder durch overacting auf (aber das könnte auch eher ein Problem ihrer Synchro sein).
Sicher, die letzten zwanzig Minuten sind dann teils etwas übertrieben – aber ich glaube, so hätte Loriot das Thema auch enden lassen.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 1. August 2021 21:10
von GoldenProjectile
Ich fand den okay, aber nicht viel mehr. Ich hatte direkt zuvor das Theaterskript gelesen und fand nicht, dass Polanski dem geschriebenen Text hier viel hinzufügen konnte. Und dass Waltz nicht chargiert ist auch in Relation zum Overacting der Damen Winslet und Foster zu sehen. :wink:

Da bevorzuge ich von Polanski aus der Zeit den Ghost Writer.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 1. August 2021 21:32
von danielcc
GoldenProjectile hat geschrieben: 1. August 2021 21:10 Ich fand den okay, aber nicht viel mehr. Ich hatte direkt zuvor das Theaterskript gelesen und fand nicht, dass Polanski dem geschriebenen Text hier viel hinzufügen konnte. Und dass Waltz nicht chargiert ist auch in Relation zum Overacting der Damen Winslet und Foster zu sehen. :wink:

Da bevorzuge ich von Polanski aus der Zeit den Ghost Writer.
Nun ja, ich fand den Ghost Writer dann gar nicht so interessant.
Nein, Der Gott ist wunderbar. Man muss auch einem Theaterscript überhaupt nichts hinzufügen. Das sind ja viel oft die viel feiner ausgearbeiteren Bücher als die Kompromisse die am Ende sonst so verfilmt werden. Jeder Versuch ein Theaterstück für den Film "aufzumotzen" scheitert doch meistens.

Die ersten 50min sind brillant. Wie hier ein Wort das Andere gibt, jedes mal wenn die Situation entschäft zu sein scheint, eine Kleinigkeit wieder einen der Charaktere triggert, sich immer wieder neue Konstellationen bilden, das ist alles ganz wunderbar. Dann die vielen winzigen Details und Kleinigkeiten am Rande oder im Hintergrund des Bildes,... Dazu noch eine gerade JETZT hochaktuelle Diskussion um Gutmenschen und Woke-Gedöns. Ich habe mich köstlich amüsiert.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 2. August 2021 11:01
von Maibaum
Interessant, ich fand den Gott des Gemetzels gemessen an seinen Möglichkeiten doch ziemlich mißlungen. Auch auf eine negative Art theaterhaft. 5/10

Was ich vor Jahren mal hier im Forum schrieb:

Nichts war wirklich schlecht, aber auch nichts wirklich gut. Die Schauspieler blieben alle weit unter ihren Möglichkeiten, was aber auch daran lag, daß die Dialoge zu papiernen waren. Der erheiternde Tiefpunkt war als Jodie Foster versucht besoffen zu spielen. Wie sich die Gespräche und die Konfrontationen entwickeln, das ist häufig etwas arg einfallsarm. Das Ganze ist halt ein Messagestück, und es fehlt mir die Intensität und die Natürlichkeit die Filme von z.B. Mike Leigh, Ken Loach, John Cassavetes oder Eric Rohmer haben.

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 2. August 2021 13:17
von danielcc
Ich glaube, das ist ein Film, für den man auch ein wenig in der richtigen Stimmung sein muss. Das sind so Filme wo ich mich aufgrund der bekannten Ausgangskonstellation frage, wie sich daraus was für 70min entwickeln soll. Aber die Dialoge, die kleinen und großen Gemeinheiten, das Zusehen beim Auseinanderbrechen der Fassade die wir alle nun mal haben, das alles hat mir einen diebischen Spaß bereitet.
Aber da kann man auch niemanden "überzeugen". Entweder es gefällt einem oder nicht.

ja, das Ganze ist sehr theaterhaft und vor allem das Spiel von Jodie Foster fand ich etwas derb in Richtung Bauerntheater. Dafür hat mir Waltz wirklich außerordendlich gefallen und auch John Reilly.

Als alter Theater-Amateur jedenfalls hätte ich dieses Stück liebend gerne inszeniert oder gespielt

Re: Zuletzt gesehener Film

Verfasst: 2. August 2021 13:55
von Casino Hille
Ich kann deine Begeisterung für den Film nachvollziehen, gerade wenn man einen Theater-Background hat sind solche Stoffe super interessant und regen die eigene Fantasie an. Ich fand diesen Film im speziellen auch nicht sonderlich gut, leider recht mies gespielt, aber kenne das Phänomen sehr gut. Hast du mal "Der Vorname" gesehen? Gemeint ist die französische Version, nicht die doofe deutsche Variante. Der könnte dir gut gefallen, schlägt in dieselbe Kerbe und ist richtig schön witzig.