Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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GoldenProjectile hat geschrieben:
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Was ich oben angetönt habe: Elle hat für mich deutlich an Luft und Antrieb verloren, nachdem der Vergewaltiger enttarnt wurde. Was merkwürdig ist, da der Film vorher ja kaum auf den simplen Spannungseffekt der Fragestellung "Who's the rapist" im Sinne eines Krimis aufbaut, sondern vielmehr die Protagonistin und ihr Umfeld erforscht. Trotzdem, sobald die Maske weg war hatte Elle für mich plötzlich nicht mehr viel zu bieten und ich bekam den Eindruck, dass der Film danach in fast jeder Szene hätte enden können.
Kann ich durchaus nachvollziehen, war für mich aber nur bedingt der Fall, da der Film danach noch einige Bösartigkeiten in petto hat, die mich wirklich verblüfft haben - mehr dazu gleich. Spannend fand ich, wie Verhoeven im ersten Drittel seinen Film fast wie einen lupenreinen Crime-Thriller aufgebaut hat, nur um im Mitteldrittel dies komplett gegen eine Charakterstudie zu tauschen. Das hatte ich so nicht erwartet und hat mich auch im ersten Moment kalt erwischt (weil mir das erste Drittel bis dahin so gut gefallen hat). Die vielen Charakter- und Beziehungsdetails, die er im folgenden FIlm dann immer wieder hat einfliessen lassen haben mich aber mehr als entschädigt.
GoldenProjectile hat geschrieben:
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Interessante Frage, zum einen finde ich dass Verhoeven hier bewusst einiges offen, bzw. der Interpretation des Zuschauers überlässt. Die "Beziehung" zum Vergewaltiger ist ausserdem provokativ, da Verhoeven uns als Zuschauer gewissermassen die Antipathie gegenüber dem Unhold verweigert - da die Hauptfigur keine erwartbare Abscheu gegenüber dem Täter zeigt (teilweise nimmt ihr Verhalten ja fast schon stockholmsyndrom-ähnliche Züge an) können wir das auch nicht. Warum das genau so ist, darüber habe ich mir eigentlich gar keine tieferen Gedanken gemacht. Wie gesagt kamen mir der Film und seine Intention ab dem Punkt der Demaskierung eher wirr und irritierend als spannend vor. Der offensichtlichste Gedanke wäre wohl dass Michele durch die Morde des Vaters in ihrer Kindheit komplett abgestumpft ist und psychisch traumatisierter, als die äusserlich so taffe Geschäftsfrau zugeben und zeigen will. Was denkst du denn?
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So ganz genau bin ich mir da auch noch nicht schlüssig. Ich könnte mir vorstellen, dass der zugrunde liegende Gedanke des Films ist, dass man sich besser auf keine Psychospielchen mit einem Soziopathen einlässt oder anders formuliert: fordere nie jemanden auf dessen ureigenem Schlachtfeld heraus. Die Charakterisierung von Michelle als Soziopath ist so unverschämt offensichtlich, wie man sie bei einer so zentralen Figur, die noch dazu durch die anfängliche Opferrolle quasi zwangsweise dem Zuschauer als Sympathiefigur aufgezwungen wird, im Kino bisher noch nicht zu sehen bekommen hat.

Ich denke, dass Michelle die eigentliche Antagonistin des Films ist. Bezüglich der Frage, ob sie vom Verbrechen ihres Vaters traumatisiert wurde oder von Anfang an eine sozio- wenn nicht sogar psychopathische Ader hatte bin ich mir hingegen unschlüssig. Tatsächlich entlarvt der Film jedenfalls mehr und mehr Michelle als Täterin, als eine Art negativer König Midas, die keinem in ihrem sozialen Umfeld sein Glück gönnt und folgerichtig bewusst oder unbewusst dieses zerstört.

Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, denn in den meisten Fällen (oder möglicherweise sogar in allen, darüber müsste ich nochmal genau nachdenken) ist das Glück gar nicht real, sondern nur eine Illusion, eine Wunschvorstellung (wie bei ihrer besten Freundin, deren Mann sie betrügt oder ihrem Sohn, dessen vermeintlicher Sohn ja offensichtlich gar nicht seiner ist oder die Beziehung ihres Ex-Mannes, die nur auf einem Missverständnis beruht oder die Eheanbahnung ihrer Mutter mit einem Schmarotzer). Die Beziehung zum Vergewaltiger passt da auch gut rein, da dessen Glück ja seine kranke Beziehung zu ihr ist und auch die zerstört Michelle folgerichtig. Warum nahm Michelle ihre anfängliche Vergewaltigung vergleichsweise "gelassen"? Vermutlich auch, weil sie gar kein glückliches Leben hatte, das dadurch zerstört hätte werden können. Sie zerstört selbst, lässt sich aber nicht zerstören und setzt entsprechend alles dran, den Spiess umzudrehen (dieses Schema lässt sich auch auf die Beziehung zu ihrem Vater anwenden und dessen ultimativer Auflösung - was den Schluss aufdrängt, dass Michelle bei Papas Amoklauf im Jahr 1976 dann doch eher Opfer denn Mittäter (nicht aktiv, eher spirituell) war).

Bitterböse sind dann auch die subtilen Schlussgags des Films, so macht Verhoeven recht unzweifelhaft klar, dass Michelle sich bei ihrer Abrechnung mit Patrick ihres Sohnes bediente, denn wie sonst sollte der sonst urplötzlich zu soviel Geld gekommen sein, dass er sich ein teures Cabrio leisten kann? Die Antwort kann nur lauten: der Job, den sie ihm verschafft hat war mitnichten nur die Organisation ihrer Party, sondern in erster Linie die Ermordung ihres kranken "Geliebten". Der Täter wird am Ende zum Opfer und umgekehrt. Auf bizarre Art und Weise hat der negative Midas Michelle so dann doch noch für das "Glück" ihres Sohnes gesorgt, da dieser nun wieder mit seinem "Traummädchen" und "seinem Sohn" vereint ist - ein natürlich äusserst fragwürdiges Glück, was wiederum perfekt zu Michelles sonstiger Vorgehensweise passt.

Auch bitterböse fand ich Michelles abschliessender Dialog mit Rebecca, in welchem ebenfalls sehr deutlich durchscheint, dass diese von den Verbrechen ihres Mannes bestens im Bilde war. Damit reisst Verhoeven dann auch noch die letzte Bastion des Filmes ein und stellt auch die einzig verbliebene positive Figur in einem negativen Licht dar. Die Konsequenz, mit welcher er jede seiner zentralen Figuren in irgendeiner Weise negativ stigmatisiert ist erstaunlich - ein Film, der an Ende ohne jeden Sympathieträger dasteht.
"Ihr bescheisst ja!?" - "Wir? Äh-Äh!" - "Na Na!"

Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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AnatolGogol hat geschrieben:
Spoiler
So ganz genau bin ich mir da auch noch nicht schlüssig. Ich könnte mir vorstellen, dass der zugrunde liegende Gedanke des Films ist, dass man sich besser auf keine Psychospielchen mit einem Soziopathen einlässt oder anders formuliert: fordere nie jemanden auf dessen ureigenem Schlachtfeld heraus. Die Charakterisierung von Michelle als Soziopath ist so unverschämt offensichtlich, wie man sie bei einer so zentralen Figur, die noch dazu durch die anfängliche Opferrolle quasi zwangsweise dem Zuschauer als Sympathiefigur aufgezwungen wird, im Kino bisher noch nicht zu sehen bekommen hat.

Ich denke, dass Michelle die eigentliche Antagonistin des Films ist. Bezüglich der Frage, ob sie vom Verbrechen ihres Vaters traumatisiert wurde oder von Anfang an eine sozio- wenn nicht sogar psychopathische Ader hatte bin ich mir hingegen unschlüssig. Tatsächlich entlarvt der Film jedenfalls mehr und mehr Michelle als Täterin, als eine Art negativer König Midas, die keinem in ihrem sozialen Umfeld sein Glück gönnt und folgerichtig bewusst oder unbewusst dieses zerstört.

Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, denn in den meisten Fällen (oder möglicherweise sogar in allen, darüber müsste ich nochmal genau nachdenken) ist das Glück gar nicht real, sondern nur eine Illusion, eine Wunschvorstellung (wie bei ihrer besten Freundin, deren Mann sie betrügt oder ihrem Sohn, dessen vermeintlicher Sohn ja offensichtlich gar nicht seiner ist oder die Beziehung ihres Ex-Mannes, die nur auf einem Missverständnis beruht oder die Eheanbahnung ihrer Mutter mit einem Schmarotzer). Die Beziehung zum Vergewaltiger passt da auch gut rein, da dessen Glück ja seine kranke Beziehung zu ihr ist und auch die zerstört Michelle folgerichtig. Warum nahm Michelle ihre anfängliche Vergewaltigung vergleichsweise "gelassen"? Vermutlich auch, weil sie gar kein glückliches Leben hatte, das dadurch zerstört hätte werden können. Sie zerstört selbst, lässt sich aber nicht zerstören und setzt entsprechend alles dran, den Spiess umzudrehen (dieses Schema lässt sich auch auf die Beziehung zu ihrem Vater anwenden und dessen ultimativer Auflösung - was den Schluss aufdrängt, dass Michelle bei Papas Amoklauf im Jahr 1976 dann doch eher Opfer denn Mittäter (nicht aktiv, eher spirituell) war).

Bitterböse sind dann auch die subtilen Schlussgags des Films, so macht Verhoeven recht unzweifelhaft klar, dass Michelle sich bei ihrer Abrechnung mit Patrick ihres Sohnes bediente, denn wie sonst sollte der sonst urplötzlich zu soviel Geld gekommen sein, dass er sich ein teures Cabrio leisten kann? Die Antwort kann nur lauten: der Job, den sie ihm verschafft hat war mitnichten nur die Organisation ihrer Party, sondern in erster Linie die Ermordung ihres kranken "Geliebten". Der Täter wird am Ende zum Opfer und umgekehrt. Auf bizarre Art und Weise hat der negative Midas Michelle so dann doch noch für das "Glück" ihres Sohnes gesorgt, da dieser nun wieder mit seinem "Traummädchen" und "seinem Sohn" vereint ist - ein natürlich äusserst fragwürdiges Glück, was wiederum perfekt zu Michelles sonstiger Vorgehensweise passt.

Auch bitterböse fand ich Michelles abschliessender Dialog mit Rebecca, in welchem ebenfalls sehr deutlich durchscheint, dass diese von den Verbrechen ihres Mannes bestens im Bilde war. Damit reisst Verhoeven dann auch noch die letzte Bastion des Filmes ein und stellt auch die einzig verbliebene positive Figur in einem negativen Licht dar. Die Konsequenz, mit welcher er jede seiner zentralen Figuren in irgendeiner Weise negativ stigmatisiert ist erstaunlich - ein Film, der an Ende ohne jeden Sympathieträger dasteht.
Mensch, warum hast du nicht einfach Nocturnal Animals geguckt? :D Mit dem könnte ich mich hier stundenlang beschäftigen und motivisch ist er sogar einigermassen verwandt. Bei Elle fehlt mir ehrlich gesagt ein wenig die Faszination für eine solche Auseinandersetzung, aber ich machs natürlich trotzdem.
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Was du schreibst macht soweit alles Sinn, wahr ist sicher, dass jeder der Charaktere sein oder ihr Fett wegkriegt und am Ende in irgendeiner Form als moralischer Verlierer dasteht, sei es nun mit Gewalt oder mit schwarzem Humor dargestellt. Was du über die spirituelle Rolle von Michelle als Opfer des Amoklaufs sagst finde ich selbstverständlich, ein zehnjähriges (?) Kind kann unmöglich realisieren, was sein Vater da gerade angestellt hat und eine Entscheidung fällen, ihn (sei es nur moralisch) zu unterstützen indem es beim Lagerfeuer mitmacht. Das tut einfach, was ihm gesagt wird. Aber auch dass Michelle noch Jahrzehnte später den geballten Volkszorn zu spüren kriegt macht für mich Sinn, die Leute hassen sie halt ausschliesslich durch ihre Verwandtschaft zu dem Übeltäter. Abneigung, wo Mitleid und Hilfe angebracht gewesen wäre, und diese extremen Reaktionen der Bevölkerung in Kombination mit dem frühkindlichen Trauma (bzw. wohl eher verzögert, als sie allmählich realisiert was der Papa angestellt hat) dürfte auch der Grund für ihr soziopathisches Verhalten sein, im Sinne eines Rachewunsches gegenüber dem Rest der Welt.

Gut fand ich übrigens die Idee der Weihnachtsparty, weil da alle essentiellen Charaktere auf einem Haufen versammelt sind. Krimi-typisch hätte man da natürlich ein Spiel draus machen können, bei dem Michelle durch genaues Beobachten den Vergewaltiger ausfindig macht (die potentiellen Täter dürften ja alle dabei gewesen sein). Daran ist Verhoeven zwar nicht interessiert, gelungen ist es trotzdem weil das Figurengeflecht auf einen Punkt komprimiert wird und sich diverse Nebencharaktere zum ersten Mal gegenüberstehen, was allein für schräge Humoreinlagen gut ist.

Aufgefallen ist mir ausserdem der regelmässige sexuelle Unterton, ein erheblicher Teil der Figurenkonstellationen äussert sich ja in sexuellen Verbindungen oder Vergangenheiten, gerade Michelle ist in dieser Hinsicht auffallend rücksichtslos und kalt (sie zerstört die Ehe ihrer Geschäftspartnerin und besten Freundin). Übrigens, bei der Party zum Videospiel sitzt sie mit vier Personen am Tisch und war mit allen davon mal im Bett: Der Exmann, die Affäre (wie ist Berkel da gelandet?), seine Frau und der Vergewaltiger. :)
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Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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GoldenProjectile hat geschrieben: Elle fehlt mir ehrlich gesagt ein wenig die Faszination für eine solche Auseinandersetzung, aber ich machs natürlich trotzdem.
Ich finde Elle noch weit faszinierender, als ich ihn im Kino gut fand (obwohl ich ihn schon wirklich gut fand, bei 8+ Punkten ist der sicher bei mir, aber ich brauche für eine genaue Einschätzung wirklich noch mindestens eine weiter Sichtung). Ich finde es unglaublich, wieviel Gedanken mir nach dem Kinogang durch den Kopf schwirren und wie sich das Puzzle erst im Nachhinein so richtig zusammensetzen lässt. Das habe ich in dieser Form so eigentlich noch nie erlebt. Wie gesagt, die Faszination ist bei mir unweit größer als die (bislang) empfundene Qualität.

GoldenProjectile hat geschrieben:
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Was du über die spirituelle Rolle von Michelle als Opfer des Amoklaufs sagst finde ich selbstverständlich, ein zehnjähriges (?) Kind kann unmöglich realisieren, was sein Vater da gerade angestellt hat und eine Entscheidung fällen, ihn (sei es nur moralisch) zu unterstützen indem es beim Lagerfeuer mitmacht. Das tut einfach, was ihm gesagt wird.
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Ich bin mir nicht sicher, ob der Film das wirklich ausdrücken will. Deine Annahme würde bedeuten, dass alle Menschen als Kinder unschuldig sind. Sind sie das wirklich? Ist es nicht eher so, dass bestimmte Charakterzüge sich bereits im sehr jungen Alter zeigen? Ist es vollkommen undenbkbar, dass eine zehnjährige bereits sozio-/psychopathische Züge hat? Darf man Michelles Wiedergabe der damaligen Ereignisse bei der Weihnachtsparty wirklich Glauben schenken? Vermittelt der Film den Eindruck, dass man ihren Worten Glauben schenken sollte? Wiederum so eine faszinierende Fragestellung, die sich nicht zweifelsfrei beantworten lässt, was angesichts Verhoevens Vorwerk fraglos vom Regisseur beabsichtigt ist (wie z.B. die Frage ob Doug Quaid in Total Recall das alles wirklich erlebt oder ob er auf einen Sessel bei Rekall geschnallt gerade "Die totale Erinnerung", also eine Lobotomie erleidet).
GoldenProjectile hat geschrieben:
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Aber auch dass Michelle noch Jahrzehnte später den geballten Volkszorn zu spüren kriegt macht für mich Sinn, die Leute hassen sie halt ausschliesslich durch ihre Verwandtschaft zu dem Übeltäter.
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Die Szene zu Beginn, als die Frau das Tablett über Michelle auskippt finde ich grossartig. Das kommt so völlig unerwartet und dadurch, dass Verhoeven zu diesem Zeitpunkt (und auch im Anschluss für eine lange Zeit) nur Fragmente ihrer Vergangenheit offenbart habe ich mich durchgängig gefragt, was damals wirklich passiert ist. Toller Spannungsaufbau und gleichzeitig drückt die Szene Michelle nach der Vergwaltigung weiter in die vermeintliche Opferrolle, obwohl der Rest des Films ja mehr und mehr klärt, dass hier Opfer- und Täterrolle im besten Falle verschwimmen, im schlechtesten Fall eigentlich genau umgekehrt sind. Unter diesem Gesichtspunkt drängt sich mir dann auch wieder der Verdacht auf, dass Michelle eben doch Mittäterin war beim Verbrechen ihres Vaters, da wie bei der Vergewaltigung die Tablett-Szene möglicherweise dem Zuschauer genau das Gegenteil der Realität vorgaukeln will.
GoldenProjectile hat geschrieben:
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Gut fand ich übrigens die Idee der Weihnachtsparty, weil da alle essentiellen Charaktere auf einem Haufen versammelt sind. Krimi-typisch hätte man da natürlich ein Spiel draus machen können, bei dem Michelle durch genaues Beobachten den Vergewaltiger ausfindig macht (die potentiellen Täter dürften ja alle dabei gewesen sein). Daran ist Verhoeven zwar nicht interessiert, gelungen ist es trotzdem weil das Figurengeflecht auf einen Punkt komprimiert wird und sich diverse Nebencharaktere zum ersten Mal gegenüberstehen, was allein für schräge Humoreinlagen gut ist.
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Ja, die fand ich auch toll. Vor allem, wie Verhoeven hier verschieden Phasen der Eskalation zeigt. Es ist auch die erste Szene, in welcher der Zuschauer Michelle in all ihrer "Glorie" erleben darf, da sie zuvor immer nur vereinzelte und subtile Bösartigkeiten vom Stapel gelassen hat. Hier legt sie aber dann richtig los, zB indem sie ihren Nachbarn unterm Tisch neben dessen Frau anmacht, die junge Freundin ihres Ex-Mannes quält (toller Gag mit dem Zahnstocher, obwohl sie es vorher angkündigt hat rechnet man ja überhaupt nicht damit), ihren Liebhaber konsequent abblitzen lässt und demütigt (die Karatebemerkung, womit sie fraglos zum Ausdruck bringen will, dass Berkel eben das Haus nicht bewachen kann und als ihr Liebhaber auch nicht mehr benötigt wird - im Gegensatz zum Karateas Patrick, der das Haus bewachen kann und auch von ihr als neuer Liebhaber ausgewählt wurde), die bösartige Bemerkung in Richtung des extremen Katholizismus von Patricks Frau. Und als Höhepunkte natürlich die stufenweise Demütigung bzw. Zerstörung ihrer Mutter, welche sie erstaunlicherweise sogar im Krankenhaus, als die alte Dame im Koma liegt unbeirrt fortsetzt (selbst in deren Abwesenheit, als sie die Ärztin frägt, ob sie sicher sei, dass es nicht simuliert sei). Was für eine Verachtung!
GoldenProjectile hat geschrieben:
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Aufgefallen ist mir ausserdem der regelmässige sexuelle Unterton, ein erheblicher Teil der Figurenkonstellationen äussert sich ja in sexuellen Verbindungen oder Vergangenheiten, gerade Michelle ist in dieser Hinsicht auffallend rücksichtslos und kalt (sie zerstört die Ehe ihrer Geschäftspartnerin und besten Freundin). Übrigens, bei der Party zum Videospiel sitzt sie mit vier Personen am Tisch und war mit allen davon mal im Bett: Der Exmann, die Affäre (wie ist Berkel da gelandet?), seine Frau und der Vergewaltiger. :)
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Das ist sehr typisch für Verhoeven, dass zentrale Figuren auch sexuell miteinander verbunden sind (der dir bekannte Total Recall taugt da weniger als Beispiel, obwohl auch es auch da das Quartett Arnie-Stone-Ticotin-Ironside gibt), allerdings schraubt er die Quantität der so verflechteten Personen in Elle in neue Höhen. Sex spielt in Verhoevens Werk generell eine Schlüsselrolle, sowohl der eigentliche Akt als handlungs- und figurenrelevantes Element als auch seine Bedeutung als Motivation für die zentralen Figuren. Türkische Früchte, Der vierte Mann oder Basic Instinct sind hier sehr gute Beispiel dafür, aber man findet es auch in praktisch jedem von Verhoevens FIlmen. Bei Elle kommt es mir aufgrund der Vielzahl der so miteinander verbundenen Figuren vor, als ob er Michelles Sexpartner als Marionetten zeichnen möchte, die alle am Faden des gleichen Marionettenspielers hängen. Michelle manipuliert alle "Marionetten" wie sie will und Sex ist dabei eines ihrer Mittel zum Zweck (z.B. wie sie Berkel noch ein letztes mal zum Zug kommen lässt, nur damit dieser von seiner Frau erwischt wird - jedenfalls impliziert der Film das).
A propos Berkel: ganz tolle Darstellung von ihm mal wieder, ich sehe ihn immer besonders gern als Kotzbrocken und in Elle darf er da ja alle Register ziehen. Auf deine Frage, wie da gelandet ist: er hat schon in Verhoevens letztem Film Black Book eine größere Nebenrolle gespielt, auch da nicht gerade eine positive. Und Paul muss wohl sehr zufrieden mit ihm gewesen sein, mit Recht wie Elle wiederum bestätigt.

Wie fandest du Hupperts Darstellung?
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Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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Für mich hängen Faszination und Qualität hier auch zusammen, ergo ist es tendenziell schwieriger sich mit ihm auseinanderzusetzen wenn man eben nicht vom Hocker gerissen wurde.

Mit Berkel meinte ich dass es mich überrascht hat ihn in einer fremdsprachigen Produktion in einer grösseren Nebenrolle zu sehen. Spricht der so gut französisch oder war das gar nicht seine Stimme?
AnatolGogol hat geschrieben:Wie fandest du Hupperts Darstellung?
Schwer zu beurteilen, ich tue mich in letzter Zeit generell immer schwerer damit, Schauspieler zu "bewerten". Denn wo hört schauspielerisches Handwerk auf und wo fängt die Einbindung einer Figur in Handlung und Dramaturgie an, die ja für die Wirkung eines Charakters genauso ausschlaggebend ist? Huppert ist auf jeden Fall den ganzen Film hindurch auf eine gewisse Art unsympathisch mit ihren geschürzten Lippen, dem herablassenden Blick und ihrer gelangweilten, kalten Ausstrahlung. Aber genau das muss sie ja eigentlich sein für die Wirkung der Figur, und die funktioniert ziemlich gut. Beste Hauptdarstellerin ist übrigens die einzige Darstellerkategorie bei den diesjährigen Oscars, wo ich mir nicht schon zu 98% sicher bin was den Gewinner angeht, aber mein Gefühl sagt mir dass sich Huppert an Portman und Stone vorbeischleichen und den vergoldeten Massagestab heimnehmen wird.
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Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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Ich glaube ich habe mich da etwas missverständlich ausgedrückt: ich halte Elle durchaus für einen sehr guten Film, aber die Faszination und der langangaltende Nachhall sind so unerwartet stark, dass ich davon ausgehe, dass der Film in weiteren Sichtungen gewinnen wird. Auch weil ich dann schon weiss, wohin der Film eigentlich will und ich so die Zusammenhänge einfacher erkennen und wertschätzen kann. Daher schrieb ich, dass die Fasznination momentan die empfundene Qualität übertrifft. Wobei die Tatsache, dass ein Film einem Tage später immer noch beschäftigt an sich schon so ziemlich das beste Qualitätmerkmal ist, dass man sich vorstellen kann (zumindest sofern man sich nicht immer noch über den Film ärgert).

Zu Berkels Stimme im O-Ton kann ich nix sagen, da ich den Film synchronisiert gesehen habe, da hat Berkel sich selbst gesprochen. Ich gehe aber mit 99,5%iger Sicherheit davon aus, dass Verhoeven niemanden in einem französischen Film (für den er extra auch selbst die Sprache gelernt hat) besetzt, der später synchronisiert werden muss. Dafür gibt es zu viele starke Schauspieler, die er für eine solche Rolle hätte nehmen können.

Hupperts Spiel zuzuschauen fand ich faszinierend. Sie hat eine ganz außergewöhnliche Ausstrahlung und das bereits seit Beginn ihrer Karriere (obwohl ich zugegebenermaßen vergleichsweise wenig von ihr gesehen habe). Kaum zu glauben, dass zwischen Heaven's Gate und Elle 37 Jahre liegen.
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Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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Schon klar, dann gehe ich aufgrund deiner Faszination für den Film und deiner generellen Verhoeven-Vorliebe davon aus dass sich Elle bei dir ab der Zweitsichtubg mit 9+ festigen wird. Was ich eigentlich sagen wollte ist dass wenn einen der Film nicht auch qualitativ fasziniert, es schwieriger wird sich auf der Interpretationsebene damit auseinanderzusetzen.

Berkel durfte seine Französischkenntnisse ja schon in IB etwas demonstrieren, mich hat es nur überrascht dass er offenbar gut genug für eine Rolle als Franzose ist.

Huppert habe ich hier zum ersten Mal bewusst gesehen, und gut war sie allemale. Wie gesagt, ich glaube das wird nächsten Sonntag ein Goldmännchen geben. Wer will sich auf ein Tippspiel einlassen?
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Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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iHaveCNit: Robocop (1988) + Robocop (2014)

Original vs. Remake


Cyberpunk, das Subgenre der Science-Fiction, welches mit Filmen wie „Escape from New York“ und „Blade Runner“ seine ersten Grundsteine erhielt, bekommt 1987 einen weiteren Vertreter spendiert: Paul Verhoevens RoboCop. In einer dystopischen Zukunft wird ein Experiment vorgenommen, in dem menschliche Androiden die Verbrechensbekämpfung vornehmen dürfen. Bei der Erstsichtung vor einer Woche des ersten Films lag meine Sichtung von „Ghost in the Shell“ nicht sehr weit zurück und ich muss sagen, dass RoboCop eine amerikanische, weniger technisch versierte Form von „Ghost in the Shell“ ist, bevor es überhaupt „Ghost in the Shell“ gab. Allgemein sehen sich die Plots sehr ähnlich und orientieren sich an den gleichen Punkten.

Detroit in der Zukunft: Der Konzern Omnicorp arbeitet im Zuge der immer stärker werdenden Gewalt an einem Programm, in dem Mensch und Maschine als Einheit in einem „RoboCop“ vereint werden. Der rechtschaffene Polizist Alex Murphy ist gerade an einer Verfolgung eines psychopathischen Schwerverbrechers dran, muss sich diesem jedoch auf brutalste Art und Weise geschlagen geben. In Alex Murphy sieht Omnicorp den perfekten Probanden für das „RoboCop“-Experiment. Im Laufe seiner Arbeit jedoch kommt die menschliche Seite Murphys immer mehr heraus und er kommt bei der Suche nach seinen Peinigern auch einer Verschwörung auf die Spur.

Ich habe hier vor, beide Versionen des Films – Das Original sowie auch das Remake – zu besprechen. Beide Versionen sind sich in der Story sehr ähnlich, aber in einigen Details grundverschieden. Wo es im Original noch ausschließlich um die Verbrechensbekämpfung geht, kommt der Kampf gegen den Terror ebenso im Remake zu tragen. Das Original ist in seiner Darstellung extrem brutal und bietet klassische 80er-Jahre-Action. Diese Brutalität vermisse ich im Remake ein wenig und die Action wirkt stark an unsere Zeit angepasst, ohne wirkliche Akzente setzen zu wollen bzw. zu können. Cyberpunk weicht hier generischer Science-Fiction. Im Original folgen wir in der Story einem klaren Pfad, der konsequent ohne verkompliziert zu werden zu Ende geführt wird. Ünnötig komplex wird es dagegen im Remake, der in meinen Augen zuviel will, was aber im Endeffekt damit begründet werden kann, dass hier Schauspieler wie Michael Keaton, Gary Oldman, Samuel L. Jackson entsprechend groß sind und entsprechende Screentime bekommen müssen. Hatten wir es im Original noch mit medialer und gesellschaftlicher Satire zu tun, so kommt ein interessanter politischer Diskurs im Remake zu tragen. Einer der gravierendsten Unterschiede ist, dass zu einer gut funktionierenden emotionalen Falltiefe zum Ausgleich der schauspielerischen Limitierung eines Joel Kinnaman seine Frau und Kind hier noch am Leben sind und dieses Familiendrama in kleinem Rahmen den Charakter von Kinnamans Alex Murphy unterstützt.

Insgesamt hat mir in dieser Nachbetrachtung das Original besser gefallen, auch wenn die Effekte vor allem im Bezug auf ED-209 weniger gut gealtert sind und die Thematik der Frage nach Menschlichkeit nicht vollends ausgereizt wird.

Das Remake will in meinen Augen zuviel, liefert dann aber zuwenig,um es mit dem Original aufnehmen zu können. „Weniger ist mehr“ trifft auch hier zu. Mir hat er trotz allem noch gefallen und bietet kurzweilige Unterhaltung.

„RoboCop“ Directors Cut (1988) – My First Look - 9/10 Punkte

„RoboCop“ (2014) – My First Look – 7/10 Punkte

„Original vs. Remake“ - Sieger „Original“
"Weiter rechts, weiter rechts ! ..... "

Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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iHaveCNit: Elle (2017)

Nachdem ich mitbekommen habe, wie dieses Jahr bei den Golden Globes in 2 Kategorien Favoriten von mir („Toni Erdmann“ als bester fremdsprachiger Film und Amy Adams für Dr. Louise Banks in „Arrival“ als beste Hauptdarstellerin Drama) leer ausgegangen sind und dafür der neueste Film von Paul Verhoeven und seine Hauptdarstellerin Isabelle Huppert triumphieren konnten, war klar, dass ich mir auch mal „Elle“ ansehen musste. Nach meiner Sichtung konnte ich erst keine genaue Aussage treffen. Ich wusste ehrlich genau nicht, was ich davon halten soll. Also versuche ich es trotzdem in Worte zu fassen.

Michelé ist eine erfolgreiche, toughe Frau mit dunkler Vergangenheit. Als bei ihr am helllichten Tag eingebrochen und sie vergewaltigt wird, wählt sie ihren eigenen Weg, mit dieser Tat umzugehen. Doch dieser Weg ist sehr riskant.

Charakterdrama, Beziehungsdrama, Missbrauchsdrama, Satire – sehr vielschichtig wird uns dieser Film präsentiert, der zwischen den Ebenen sehr sprunghaft agiert. Wir bekommen genau das, was wir nicht erwarten. Handlungen und Entscheidungen, die jedweder typischen Logik entbehren. Beinahe zuviel, um das alles in seiner Komplexizität zu erfassen. Für mich ist der Film aber weder Drama, Kömodie, Satire – sondern eine Charakter- und Fallstudie, wie ich sie in dieser Art noch nicht gesehen habe – die mich aber nicht abgeholt hat. Isabelle Huppert spielt ihren unglaublichen komplexen, ambivalenten Charakter und Mittelpunkt des Films aber auf den Punkt und ich respektiere Paul Verhoeven dafür, einen so mutigen, komplexen und kontroversen Film gemacht zu haben. Auch wenn ich die Entscheidung bei den Globes eher als Entscheidung für Paul Verhoeven und nicht gegen „Toni Erdmann“ sehe und anders entschieden hätte.

„Elle“ - My First Look – 8/10 Punkte.

Wahrscheinlich wollte die Hollywood Foreign Press nur dem guten Verhoeven den Hof machen und Honig um den Mund schmieren, auf seine alten Tage und quasi sein gutes Comeback sowie sein Lebenswerk ehren, weil sie sich ihm gegenüber noch etwas schuldig gefühlt haben.
"Weiter rechts, weiter rechts ! ..... "

Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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HCN007 hat geschrieben:Wahrscheinlich wollte die Hollywood Foreign Press nur dem guten Verhoeven den Hof machen und Honig um den Mund schmieren, auf seine alten Tage und quasi sein gutes Comeback sowie sein Lebenswerk ehren, weil sie sich ihm gegenüber noch etwas schuldig gefühlt haben.
Gewagte These angesichts Verhoevens Vergangenheit. Verhoeven war nie ein Kritikerliebling - anders als zB Scorsese, dem Jahre- ja jahrzehntelang der Ruf nachhing bei Preisverleihungen übergangen worden zu sein und der daher fast folgerichtig irgendwann auch noch einen Goldjungen "gnadenhalber" verpasst bekommen hat. Von daher würde ich wenn überhaupt eher auf einen Huppert-Bonus tippen (wobei ihre Darstellung meiner Meinung nach auch jede der zweifellos sehr guten Leistungen in Toni Erdmann nochmals deutlich in den Schatten stellt).
"Ihr bescheisst ja!?" - "Wir? Äh-Äh!" - "Na Na!"

Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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Ich finde vor allem faszinierend, wie grimmig, blutrünstig und realistisch Verhoeven auf das Mittelalter blickt, ganz ohne den Fantasy-Kitsch, welchen man sonst gerne an das Setting dran pappt. Zudem ist der Film besonders in seiner Darstellung menschlicher Urtriebe interessant, da wird munter vergewaltigt und ausgeweidet und das ein paar Jahrzehnte vor "Game of Thrones".
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/

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Re: Die Filme von Paul Verhoeven

104
Zudem spannend ist die Tatsache, dass Verhoeven hier keine Scheu davor hat sein "Opfer" als manipulative Verführerin mit wenigen (wenn überhaupt) positiven Charakterzügen zu zeigen. Wenn man so will ist JJLs Agnes damit eine frühe Version von Michelle aus Elle - wobei die konsequente figürliche Grauzone natürlich ohnehin typisch für Verhoevens Oevre ist. Gerade angesichts dessen wie wüst und düster Verhoeven das Mittelalter in F&B gezeichnet hat ist es ein echter Jammer, dass das seinerzeit gross angedachte Spektakel "The Crusades" mit Arnie nicht zustande gekommen ist.
"Ihr bescheisst ja!?" - "Wir? Äh-Äh!" - "Na Na!"

Re: Die Filme von Paul Verhoeven

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Was mich stört, ist nicht die Brutalität und das Derbe, das sind Pauls Markenzeichen und da ist er in seinem Element. Leider sieht sein Film aber eben nicht nach Mittelalter im Sinne von historisch aus, was ihn mir immer wieder verleidet. Er wirkt mehr wie ein Fantasy-Anenteur ala Herr der Ringe. V.a. Hauers Kostümierung ist oft unfreiwillig komisch.

Scotts Königreich der Himmel macht da sehr vieles sehr viel besser, wenn er auch insgesamt ein wenig zu zahm ist.
http://www.vodkasreviews.de


https://www.ofdb.de/autor/reviews/45039/