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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
The Whole Truth: Lügenspiel
"At some point, every defense lawyer has to choose between his own need to know the truth and the best interests of his client." - Es ist keine einfache Verhandlung für Strafverteidiger Richard Ramsay, als er für seine Freundin Loretta den Fall ihres minderjährigen Sohns Mike übernimmt. Der soll nämlich seinen reichen Vater erstochen und die Tat direkt im Anschluss bei der polizeilichen Vernehmung gestanden haben. Seit dem jedoch schweigt er und weigert sich partout, selbst mit seinem Anwalt zu reden. Ramsay ist nun in der unglücklichen Situation, eine Verteidigung aufbauen zu müssen, ohne die Wahrheit zu kennen. Und dabei ist es doch gerade die, auf die man sich vor Gericht berufen muss: "Do you solemnly swear that you will tell the truth, the whole truth, and nothing but the truth, so help you God?" Dieses moralische Dilemma dient Regisseurin Courtney Hunt als Aufhänger für ihren 2016er Gerichtsfilm, der seinem Genre alle Ehre macht und sich - bis auf ein paar Rückblenden - wirklich ganz auf den Gerichtssaal beschränkt.
Im Vorfeld wurde "The Whole Truth" mit einiger Besorgnis beachtet. Der eigentlich als Hauptdarsteller vorgesehene Daniel Craig stieg nur wenige Tage vor Beginn der Dreharbeiten aus der Produktion aus unbekannten Gründen aus, auf den letzten Drücker musste Keanu Reeves als Ersatz rangeholt werden. Umso überraschender ist es, dass sich hinter "The Whole Truth" ein durchaus ansprechender und interessanter Genrebeitrag verbirgt, der sich visuell der Reduziertheit verschreibt und weniger aufgeladen daher kommt als die klassischen Justizdramen der 90er Jahre. Das beginnt schon mit dem Gerichtssaal selbst, der spärlich eingerichtet, unauffällig beleuchtet und absolut nüchtern als das inszeniert wird, was er ist: ein Handlungsort. Hunt sucht nicht nach der großen menschlichen Tragödie oder den tiefschürfenden soziologischen Milieuuntersuchungen. "The Whole Truth" ist keine Parabel, sondern ein bewusst allgemein gehaltenes Verfahren eines konkreten Tathergangs, und entwickelt darin einen eigenen Charme. Reeves, der den Film nicht nur tragen muss, sondern aus dem Off auch als Erzähler fungiert, ist dann auch kein ideologisch motivierter John Grisham Akteur oder gar Jim Garrison Verschnitt, sondern gefällt als aus dem Leben gegriffener Anwalt, der durch seine persönliche Motivation und eine unkonventionelle, aber geerdete Herangehensweise an das Verfahren auffällt. Dass der "Matrix"-Star auch als vergleichsweise biederer Smoking-Träger charismatisch genug ist, um durch die 90 Minuten zu führen, ist dabei ein Gewinn für das wendungsreiche Drehbuch und die ganz auf die Geschichte fokussierte Inszenierung.
Die restliche Besatzungsliste weiß ebenfalls, die auf dem Papier gerade zu betont durchschnittlichen Charaktere mit Leben zu füllen. Renée Zellweger macht in ihrem Comeback nach 6 Jahren Abstinenz vom Filmgeschäft eine gute Figur als mitleidende Mutter des Angeklagten, Jim Klock hat sichtliche Freude daran den aggressiven Rechtsanwalt zu geben und die reizende Gugu Mbatha-Raw ist als Ramsays neue Assistentin Janelle nicht nur optisch ein Hingucker, sondern verkörpert glaubhaft jene unbefangene, von der Alltagsarbeitsroutine unverdorbene Sichtweise, die als Gegenpol zur Reeveschen Abgeklärtheit passend gesetzt wird. Am meisten Spaß macht der Film ironischerweise daher außerhalb des Gerichtssaals, wenn entweder Reeves und Mbatha-Raw über die Verpflichtungen ihrer berufsbedingten Verantwortung debattieren oder in Rückblenden der Mord selbst visuell rekonstruiert wird. Letztere profitieren vor allem von zweierlei Eigenschaften. So weiß einmal Jim Belushi als Mordopfer und fieses Arschloch vom Dienst schauspielerisch aufzutrumpfen und sticht positiv heraus. Und außerdem ist der Untertitel "Lügenspiel" hier Programm: Jeweils passend zu dem, was die aus der (falschen) Erinnerung nacherzählende Figur gerade von sich gibt, unterstreichen oder demaskieren die Szenenfragmente das gesprochene Wort, wenngleich sich der Zuschauer nie darauf verlassen sollte, es in diesem Fall mit einer aufrichtigen Erzählweise zu tun zu kriegen. Da Ramsay ohnehin alle Zeugen für Lügner hält, ist die Fallhöhe des Behaupteten auf eine spannende Art und Weise ambivalent und, ohne dabei das Rad neu zu erfinden, versteht es Hunt sehr gut, ihren Film geschickt als Lügenkonstrukt so aufzubauen, dass es undurchsichtig bleibt, wann man den Figuren und der filmischen Aufmachung glauben darf.
Nun könnte man glauben, dass diese Komponenten zwar sicher einen großen Freiraum für die Darsteller abgibt, doch wo bleibt darin die Bewandnis, diese Geschichte als Spielfilm groß aufzuziehen? "The Whole Truth" etabliert schnell einen Rahmen, in dem sich diese Frage nicht gestellt werden muss. Woran Hunt genau interessiert ist, ist insofern weniger klar zu umreißen, als dass es keine unbedingte Moral gibt, die sie an den Mann oder die Frau bringen will. Eher legitimiert sich das im "Law & Order" Stil gestaltete Geschehen in seiner Diskrepanz zwischen den Sichtweisen eines Anwalts auf Lüge, Wahrheit und Schweigen und denen des Zuschauers. Während der Zuschauer die Wahrheit herauskriegen und sie deshalb so lange wie möglich nicht vorgesetzt bekommen möchte, verzweifelt Ramsay daran, Lügen selbst entlarven und Erkenntnisse gewinnen zu müssen, da es seiner Tätigkeit unglaublich hinderlich ist. Das Verlangen von Protagonist und Publikum mag also dasselbe Ziel haben, aber aus ganz unterschiedlichen Motivationen, was durch die zusätzliche Gestaltung Ramsays als Off-Kommentator eine vielversprechende Distanz zwischen den Parteien aufbaut. Spannend ist dann vor allem, wie Hunt in den letzten 10 Minuten mehrere Wendungen auffährt und den Film dabei gleich mehrmals komplett auf den Kopf stellt. Das mag in diesem drastischen Maß an plötzlicher Verkomplizierung im Widerspruch zur neutralen realistischen Herangehensweise an die vorherige Handlung stehen und gerät vielleicht eine Spur zu reißerisch, ist aber neben seiner Funktion, den Wiederschauwert des Films zu erhöhen eine nette Spielerei, die den gesamten Film selbst als "Lügenspiel" offenbart.
Fazit: "The Whole Truth", der sich am Ende als "The Whole Lie" entpuppt, ist kein visuell überragendes Meisterwerk, sondern ein verspielter betont kleiner Themenbeitrag, der dem mittlerweile in den TV-Sektor abgewanderten Genre gegenüber besonders in der verschobenen Sichtweise auf die Charaktere mit interessanten Aspekten aufwarten kann und darüber hinaus dank kompetenter Regie und fähigen Darstellern absolut sehenswert ausfällt.
7/10
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/
Let the sheep out, kid.