Wie erwähnt schaue ich jetzt mit einem Freund, der noch nie einen Bond-Film gesehen hat, gemeinsam alle Filme chronologisch durch. Direkt im Anschluss an DN folgte FRWL und bei dieser direkten Gegenüberstellung strahlt der glänzende FRWL-Stern am Bond-Firmament gleich umso heller. Ist das ein Top-5-Bond? Ja, ja und nochmal ja! Es ist geradezu unverschämt, wie grandios allen Beteiligten und allen voran Terence Young dieser erst zweite Bond-Film gelungen ist. Als Vorlage diente der in den Augen vieler beste Roman von Ian Fleming, immerhin ist es sogar jenes literarisches Bond-Abenteuer, welches von John F. Kennedy höchstpersönlich einst auf eine Liste seiner 10 Lieblingsromane des damaligen Jahres gesetzt wurde. Jedenfalls ist 60 Jahre später bloß erstaunlich, dass es sich bei Film Nr. 2 der Reihe schon um einen perfekten Eintrag im Franchise handelt, der alles, was Bond ausmacht, bereits ideal ausbuchstabiert – und das, bevor einige Franchise-Ikonografien vollends manifestiert waren. Schon DN musste man loben, wie selbstsicher er seinen Helden vorstellte, so als wüsste er bereits, dass da gerade ein über 60-jähriger Kinomythos entsteht. FRWL versteht sich fraglos schon als Teil dessen.
Obwohl das große Schurkenhauptquartier fehlt, obwohl das einzige Q-Gadget ein Koffer mit Tränengaskapsel ist, obwohl man auf richtige Actionszenen die meiste Zeit vergeblich wartet und dann alles nur in den letzten 20 Minuten stattfindet: FRWL verkörpert für mich alles, was Bond in seinen besten Momenten ausmacht. Martin Scorsese hat vor ein paar Jahren die Marvel-Superheldenfilme abwertend als "Theme Park Rides" bezeichnet, aber in wertschätzender Weise beschreibt das für mich das Bond-Kino perfekt: Es sind aufregende Spionage-Themenparkveranstaltungen, irgendwo auf der Schwelle zwischen Pulp und Mystery, mit einer Prise Nervenkitzel, wann immer es sich anbietet. Terence Young, Albert R. Broccoli und Harry Saltzman haben das von Beginn an verstanden und schon beim zweiten Anlauf perfektioniert. Die ersten fünfzehn Minuten zeigen das genauestens auf: In insgesamt vier Szenen wird nicht nur der Plan der Schurken (und somit der Plot des gesamten Films) vorgestellt, sondern auch im Schnellverfahren einmal das ganze Bestehen deren Universums.
Den brutalen Killer Red Grant, der den ganzen Film über das finale Ziel verfolgt, James Bond zu töten, wird eingeführt, in dem er – genau – erstmal James Bond tötet (oder zumindest einen Mann mit James Bond Maske). Der geniale Terroristen-Pläneschmieder, der dank seines brillanten Verstands schon um mehrere Züge die Reaktionen seiner Gegner vorhergesehen hat, wird beim Schachspielen eingeführt (er hätte aber auch Strippenzieher im Marionettentheater sein können). Das Mastermind im Hintergrund wird nie direkt gezeigt, sinniert nur über die Brutalität seiner gezüchteten Kampffische und verfüttert diese gemütlich an die Katze auf seinem Schoß. Die ausführende russische SPECTRE-Omi watschelt auf dem Rekrutierungsgang ihrer Terroristensuche wohlwollend nickend an einer Schussmauer vorbei, an der die Attentäter-Azubis am lebenden Objekt Schießübungen vollziehen. All das ist eigentlich ziemlich gaga, komplett drüber und in seiner Natur einem Comic Strip näher als einem Agentenfilm. Aber genau das ist eben das Konzept: Young versucht gar nicht erst, diese Elemente als geerdet zu präsentieren, nimmt sie in ihrer überzogenen Darstellung aber auch ernst.
Ein großer Triumph der der Bond-Reihe besteht darin, sich immer sehr effektiv in einem filmintern eigenen Universum aufgehalten zu haben, dessen Wiedererkennungswert hoch ist. Young rückblickend dabei zuzuschauen, wie er im ersten Akt diese überkandidelte, in sich aber stimmige Glamour-Spionagewelt etabliert, ist, als schaue man ihm dabei zu, wie er allein den Filmmythos Bond vor den eigenen Augen zusammenbastelt – ohne Sean Connery überhaupt auftreten zu lassen. Wenn der dann ins Bild kommt, ist gar keine Einführung à la Casino aus DN mehr nötig. Schmusend hockt er da in seinem kleinen Boot, eine hübsche Frau an seiner Seite, und das Büro muss zugunsten eines gemeinsamen Schäferstündchens nochmal eine halbe Stunde länger warten. Connery agiert mit schlafwandlerischer Gelassenheit, ist dabei aber eben unverschämt cool. Die Spionagemission, auf die James Bond in FRWL geschickt wird, lässt sich übrigens wie folgt zusammenfassen: "Mr. Bond, es gibt irgendwo in Istanbul eine russische Blondine, die einmal ein Foto von Ihnen gesehen hat und jetzt mit Ihnen direkt in die Kiste hüpfen will. Fahren Sie doch einfach mal hin und schauen Sie, was da los ist."

Genial auch, dass M gegenüber Bond diese wirklich idiotische Geschichte ausführlich erzählt und Bond nur reagiert mit: "Das Ganze ist so absurd, dass es beinahe wahr sein könnte." – Mensch, da ist aber einer wirklich von sich überzeugt …
In der Horizontalen ermittelt es sich jedenfalls am angenehmsten und so verschlägt es Bond nach Istanbul, und spätestens hier ist FRWL ein Gedicht von einem Bond-Film. Die orientalische Kulisse wird dermaßen stimmungsvoll, atmosphärisch und sogar spannend eingeführt, das es eine Freude ist. Neben der Hagia Sophia ist vor allem die Kanalisation von Kaiser Konstantin für mich persönlich ein großes Schmankerl. Bond-Filme sind in ihren stimmigsten Momenten zumeist ironisches Kino und somit könnte es kaum passender sein, dass Bonds Fahrer auf dessen Bemerkung, sie würden verfolgt und ob dies denn in Istanbul so üblich sei, ganz gelassen entgegnet: "Klar, so machen wir das hier. Die Bulgaren verfolgen uns, wir verfolgen sie. Das tut der Freundschaft keinen Abbruch."

Das Ensemble von FRWL ist fantastisch. Mit Kronsteen, Rosa Klebb und Red Grant hat man drei famose Gegenspieler etabliert, die alle auf ihre Art funktionieren – insbesondere Grant als stiller Verfolger im Hintergrund hat über die gesamte Laufzeit eine immense Präsenz, was auch dem Umstand geschuldet ist, dass wir seine Rolle im Plot von Beginn an kennen und Bond fast 100 Minuten lang dabei zuschauen, wie er auf unseren Wissensstand aufholt. Wenn das dann passiert, und Bond und Grant und damit auch Sean Connery und Robert Shaw sich gegenseitig endlich reinen Rotwein einschenken, ist das Dialogduell der beiden nicht mehr oder weniger spannend wie der direkte brutale Faustkampf, der folgt, und bei dem sich beide Schauspieler spürbar mit vollem Körpereinsatz ineinander werfen. Der fraglose Höhepunkt des Films!
Aber auch abseits von SPECTRE ist der Cast großartig: Ali Kerim Bey ist der wohl beste Verbündete, den man Bond je an die Seite stellte und wird von Pedro Armendáriz mit Lebensfreude und viel Charme verkörpert. Seine Figur ist deshalb so prägend für den Film, weil er als "Kenner" der vertrackten Istanbul-Welt Bonds einzige echte Anlaufstelle ist. Besonders hervorheben sollte man noch Daniela Bianchi, denn Tatjana Romanova ist für mich in der absoluten Bond-Girl-Topliga. Sie sieht nicht nur absolut phänomenal aus, sie ist auch integraler Teil der Schurken-Scharade und es ist beinahe tragisch, wenn sie von Bond an Bord des Orient-Expresses geohrfeigt und angebellt wird, obwohl sie ja selbst gar nicht mehr weiß, was hinter den Kulissen eigentlich gespielt wird. Bonds Machogehabe und sein Sextrieb stellen eine wesentliche Komponente des Plots da – so würde man das heute wohl nicht mehr machen. Der ganz fantastische Vorspann (einer der besten der Reihe) etabliert aber schon als Motiv, wie Sex in Bond-Filmen funktioniert: Auf die nackten Beine und Bäuche orientalischer Tänzerinnen werden die Namen der Beteiligten projiziert. Ein Hingucker, sicher, aber dann doch so präsentiert, dass man alles gut und in Ruhe durchlesen kann. Im Vordergrund steht nämlich der Text. Angedeutete Erotik bringt nur die gewisse Würze.
A propos Vorspann: John Barrys Soundtrack ist fantastisch, eingängig, explosiv und dramatisch. Der Bond-Sound, den kein Komponist mehr prägte als er, tönt hier aus jedem Stück heraus; ein immenses Upgrade zum direkten Vorgänger. Genau das gilt auch für die Regie von Terence Young: Wieder verzichtet der Filmemacher bei jeder Gelegenheit auf Nahaufnahmen und sorgt damit für "große" Bilder, die gerade in den Actionszenen mächtig was hermachen. So passt es zu seinem Stil, dass er beim großen Geballer im Zigeunerlager nicht nur zwischen schießenden Menschen auf beiden Seiten hin und her schneidet, sondern mit der Kamera Bond folgt, der einen Rundgang über das Schlachtfeld macht und sich beinahe scharmützelnd an den Kämpfen beteiligt. Actionhighlights hat FRWL auch ansonsten reichlich: Die Schlacht im Zigeunerlager und die abschließende Bootsjagd mit gehörig Explosionen sind dabei genauso beeindruckend wie die vergleichsweise "kleineren Kämpfe", einmal die zweier Zigeunerinnen auf Leben und Tod und natürlich die erwähnte brutale Auseinandersetzung zwischen Bond und Grant an Bord des Orient-Express'. Unbedingt hervorheben sollte man noch den Helikopter-Angriff, bei dem die Kufen mehr als einmal wirklich gefährlich nah am Stuntmann (oder war es gar Connery selbst?) vorbeirasen, ehe die Szene selbst durch einen hübschen Witz abgerundet wird.
An dieser Stelle mal ein Einwurf meines Mitguckers: "Helikopter sahen in den 60ern irgendwie ulkig aus, so, als sollten die Dinger eigentlich nicht fliegen können." Recht hat er, allzu lange fliegt das Ding dann ja auch nicht. Übrigens auch in echt nicht: Terence Young hatte bei einem Helikopter-Flug während der Dreharbeiten einen heftigen Unfall. Das Teil stürzte überraschend ins Meer, Young wurde gerettet, blutete aber an beiden Beinen. Weitergedreht wurde dennoch nur 35 Minuten nach dem Beinahe-Unglück, Young soll an dem Abend schon Witze über das Ereignis gemacht haben: Bei solchen Vorfällen wohl kein Wunder, dass FRWL selbst in seinen halsbrecherischsten Momenten noch pointiert sein kann und sich dadurch seinen Platz an der Bond-Sonne verdient. Die Welt der Bond-Filme ist eine Welt des ungehemmten und ganz wichtig bedingungslosen Spaßes. Ohne ein wenig Gefahr ist der einfach nicht möglich. Da passt dann auch wieder der Themenpark-Vergleich. Eine Achterbahn macht nur Spaß, wenn man sich zumindest kurz der Illusion des Waghalsigen hingibt. Wer sich drauf einlässt, wird bei der Fahrt garantiert geschüttelt, nicht gerührt.
PS: Warum kommen die Liebesgrüße eigentlich "from Russia" bzw. "aus Moskau"? Müssten sie nicht "from Türkiye" bzw. "aus Istanbul" stammen?