GoldenProjectile hat geschrieben: 29. Juni 2020 21:25
Das kreativste was die PotC-Marke je hervorgebracht hat ist ein Mod eines schwedischen Programmierers zum gleichnamigen Computerspiel von 2003.
Auf Wunsch versuche ich, diese Behauptung noch etwas zu erläutern:
Um 2000 rum brachte eine kleine, ich glaube russische Software-Firma mit dem Namen Akella ein Piraten-Computerspiel auf den Markt, eine Art Abenteuer-Rollenspiel namens Sea Dogs dass zur Kolonialzeit auf den westindischen Inseln spielt. Voll mit See- und Landkämpfen, interaktiven Dialogen, Seehandel und so weiter. Drei Jahre später entstand ein zweiter Teil, und nun stand damals der erste PotC-Film gerade in den Startlöchern. Disney roch die Gelegenheit und lizenzierte Sea Dogs 2 unter dem Namen Pirates of the Caribbean (auch wenn die beiden Medien bis auf den Backdrop nicht wirklich etwas gemeinsam hatten) und es wurde als Spiel zum Film präsentiert.
Unser junger Protagonist (meine bescheidene Wesenheit) bekam das Spiel geschenkt und tummelte sich endlose Stunden darin. Wir reden hier davon, dass der genannte PC-Laie weder davon wusste dass WASD Steuerungstasten sind noch dass ein Handbuch in PDF-Form im Spieleordner vorliegt, folglich auf der Seekarte mit seinem Schiffchen lange Zeit gar nicht von der ersten Insel wegkam und Wochen nur auf besagter Insel verbracht hat, wodurch ich bis heute die Namen aller sogenannten NPC's und alle Verstecke und Geheimnisse kenne. Eine fiktive Welt also, die ich wie meine Westentasche kenne und von der ich bis heute irgendwie total fasziniert bin.
Trotzdem hatte das Spiel auch einige Fehler (sogenannte Bugs im Fachjargon), weil es - um mit dem Release des Films zu korrelieren - zu früh auf den Markt kam. Beispielsweise gibt es Nebenhandlungen ("Quests") die nicht zu Ende geführt werden oder gar nicht erst gestartet werden können (und dem gemeinen Spieler daher verborgen bleiben), weil z.B. ein essentieller Charakter gar nicht in die Spielwelt eingebaut wurde. Der Rest des Codes ist aber vorhanden.
Unser junger Protagonist stiess bei seiner Begeisterung für jedes Detail des Spiels früher oder später drauf und hat angefangen, das Spiel zu modifizieren. Das klingt jetzt viel glorreicher als es wirklich war, denn unser junger Protagonist ist bis heute ein Laie was PC-Technik und Programmiercodes angeht, und war es damals, in seinen jungen Jahren erst recht. Wir reden hier davon dass er mehr oder weniger auf Glück Stellen des Spielcodes kopiert und angepasst hat. Daraus hat sich aber ergeben, dass er diese unfertigen Quests freilegen konnte, indem er jeweils den einzigen kleinen Fehler behoben hat (der Rest des Codes war ja vorhanden), aber auch z.B. zusätzliche NPC's in die Spielwelt einbauen, Dialoge verbessern und generell einfache, kleine Anpassungen vornehmen konnte. Bis heute ist das ein gelegentliches Laienhobby, das teils mit kleinen Erfolgserlebnissen, oft auch mit viel Frust verbunden war (und zahlreichen Neuinstallationen des Spiels, weil ich den Code mal wieder versaut hatte).
Erst vor etwa drei Jahren wurde mir wirklich bewusst, dass eine internationale Community treuer Fans (deren Plattform das Forum "Pirates Ahoy" ist) dasselbe schon viel länger und viel besser gemacht hat. In den letzten Updates haben sie aus ihrem Mod (Modifikation) "New Horizons" quasi ein neues Spiel entwickelt, das auf dem Original basiert. Das Gameplay ist viel ausgefeilter und detaillierter, die Spielwelt massiv grösser mit neuen Inseln und der Auswahl verschiedener geschichtlicher Epochen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. Ausserdem ist die Originalgeschichte des Spiels nur noch eine von mehreren Kampagnen, aus denen man beim Start auswählen kann, und die alle inhaltlich von Grund auf neu programmiert wurden und sich stark unterscheiden. Zum Beispiel gibt es eine Vorgeschichte zum ersten PotC-Film und eine Adaptation der Seefahrergeschichten um Horatio Hornblower, die man spielen kann.
Die beiden Kampagnen die ich meinte stammen von besagtem ebenso bescheidenen wie genialen Schweden, der im Forum als JRH (Jack Rackham) bekannt ist. JRH hat in beiden Geschichten eine Art Rätselspiel geschaffen und damit die Mechanik des Originalspiels brillant zweckentfremdet. Das heisst er hat dieses technisch eher limitierte Spiel, das eigentlich nie dafür gedacht war, mit einfachen Mitteln komplett umgekrempelt und zwei Kampagnen daraus gemacht, in denen es darum geht, Schlösser, Rätsel und Puzzles zu knacken, alles ebenso schlicht wie genial auf den sehr limitierten Möglichkeiten des Spiels aufbauend, mit Gegenständen zu interagieren. Dazu kommt sein sehr schräger und bizarrer Humor bezüglich der Szenarien, Figuren, Aufgabenstellung und deren detaillierter Ausgestaltung. Die eine Kampagne ist eine Art Room-Escape in der surrealen Residenz des Freibeuters Woodes Rogers, die zweite eine Adaption von "The Gold Bug", einer Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe die sich um das Rätsel einer Schatzsuche dreht.
Falls jemand bis hier gelesen hat und im besten Fall mein Geschwafel einigermassen nachvollziehen konnte: JRH's selbstgebastelte Kampagnen im Mod dieses Nicht-wirklich-PotC-Spiels, das mich so geprägt hat, gehören zum tollsten was ich in den letzten Jahren in Sachen Medien/Kunst/Kultur erlebt habe, und da waren zum Glück viele tolle Sachen (Filme, Bücher, Musik etc.) dabei. Ich hatte riesigen Spass und bin bis heute total beeindruckt, weil ich durch meine Laienerfahrung auch den technischen Aspekt der dahintersteckt ein bisschen nachvollziehen kann.