Der 90. Geburtstag oder Dinner For One
"Klassiker" - Ein Begriff, der heute nur allzu leichtfertig verwendet wird. Wann ist etwas wirklich ein Klassiker? Wie wird etwas zum Kult? Und wie lange sollte es dafür schon mindestens Bestand haben? Wie viele Generationen muss es überleben? Nun, am ehesten lässt sich der Begriff des Klassikers wohl durch eine TV-Produktion des NDRs erklären, die 1963 das erste Mal auf Sendung ging und heute den Weltrekord als "weltweit am häufigsten wiederholte Fernsehproduktion" hält. Dabei läuft dieser 18-minütige Comedysketch des britischen Komikers Freddie Frinton mit seiner Partnerin May Warton traditionell nur an einem Tag des Jahres: Dem 31. Dezember. Und das wieder und wieder und wieder... und zwar völlig zurecht! Ohne "Der 90. Geburtstag oder Dinner For One" kann sich Fernsehdeutschland das Ende eines jeden Jahres wohl nicht mehr vorstellen, was an Rezeption genügt und alles über die Zeitlosigkeit seines Humor auszusagen weiß.
Das Konzept ist denkbar einfach: Eine alte Frau aka May Warton wünscht sich zu ihrem 90. Geburtstag nichts sehnlicher als ihn mit ihren vier besten Freunden zu verbringen. Da die aber bereits alle über die Klinge gesprungen sind, muss Freddie Frinton als Butler James diese doubeln. Großzügigen Alkoholgenusses inklusive! Und so entfesseln die Akteuere und Regisseur Heinz Dunkhase eine sich immer wiederholende Spirale an Running Gags, die alle für sich Kultpotenzial haben. Das größte Lob muss dabei natürlich auch heute noch Freddie Frinton zugesprochen werden: Er trinkt und trinkt, imitiert am Anfang noch relativ ernst und auf den Punkt die vier Gäste, die nur durch seine fikitven Nachahmungen real zu werden scheinen, bis der Alkohol den Großteil seiner Performance übernimmt. Herrlich überzeichnet stellt er mit einfachsten - immer weiter ins Mark überzeichneten - Mitteln seine fortwährende Betrunkenheit dar, lallt unverständliche Laute vor sich hin und bringt sämtliche wiederholende Gags langsam immer mehr zu einem Höhepunkt, wobei sie erst in den Variationen so richtig zum brüllen einladen. Es ist ganz klar: Mit Frinton steht und fällt der ganze Sketch. Und solange er noch steht, lacht das Publikum und klatscht begeistert. Heute wie damals.
Der Tigerkopf dürfte dabei übrigens der legendärste Running Gag sein. Nach jeder Runde, die der gute James um den Tisch wandert, stolpert er wieder über einen ausgestopften Tigerkopf... bis er dann doch einmal daran vorbeirennt oder über ihn rüber hüpft (natürlich nicht, ohne dann auf dem Rückweg doch wieder darüber zu stolpern). Doch noch anderes hat sich dem jährlichen Zuschauer ins Gedächtnis gebrannt: Sir Toby, der immer noch ein zusätzliches Einschenken verlangt, Admiral Schneider, der mit seinem militärischen Zusammenhauen der Hacken den armen James später noch in arge Bedrängnisse bringt und natürlich so manche berühmt-berüchtigte Folge des Alkoholkonsumes von James: Wenn er später am Glas vorbeigreift und stattdessen aus der Blumenvase trinkt oder statt Miss Sophie aus ihrem Stuhl zu helfen ihr eben diesen unterm Hintern wegzieht, dann ist das simpelster Humor auf ganz einfachem Niveau mit ganz einfacher Umsetzung, dabei aber eben unfassbar charmant und effektiv. Die Kürze des Sketches kommt einem dabei sehr zu Gute, so zeichnet sich von Dinnergang zu Dinnergang ein klarer Spannungsbogen ab, der die Erwartungen an die Variationen für die nächste Wiederholung immer weiter anschrauben. Das alles mag keine große Kunst sein, doch es ist eben auf eine ganz direkte Art und Weise lustig, wenn man mit James gleichzeitig lachen kann und den Armen für all die Strapazen des Geburtstages auch irgendwie bedauern muss.
Abgerundet wird die ständige Wiederholung der Gags durch den im Kern des Sketches stehenden, sich ebenfalls immer wiederholenden, Dialog zwischen Miss Sophie und James: "Same procedure as last year, Miss Sophie?", fragt der gute James vor jeder weiteren Runde, was von ihr stets mit einem augenzwinkerndem "Same procedure as every year, James." quittiert wird. Und so, wie dieser kurze Schlagabtausch (der folgerichtig in der letzten Minute ebenfalls einen ungeahnten Höhepunkt erreicht) selbstreflektierend das eigene Gagkonzept und bei heutiger Betrachtung auch die ständige Wiederholung des Kurzfilmes an Silvester widerspiegelt, ist er auch ironischerweise sicher nicht zuletzt der Grund für das Zusammengehörigkeitsgefühl, dass diesen Sketch für viele untrennbar mit Silvester werden lässt: Die Gewissheit, dass das nächste Jahr zwar neues bieten wird, aber manches sich eben niemals ändert. Entpuppt sich der jährliche Zuschauer also selbst als eine Miss Sophie, die trotz aller Änderungen sich einmal im Jahr zumindest ein Wiedersehen mit ihren besten Freunden wünscht... selbst, wenn diese längst Vergangenheit sind? Und tut "Dinner For One" als Film selbst dann für uns Zuschauer nichts anderes als James für Sophie und ermöglicht uns diesen Wunsch nach Beständigkeit, wenn auch nur für 18 Minuten? "I'll do my very best", sagt James und damit schließt der Sketch und - womöglich - auch das Vorhaben der kurzen Gag-Odyssee.
Fazit: Was "Der 90. Geburtstag oder Dinner For One" für einen selbst bedeutet, wird jeder einzelne für sich wissen oder noch herauskristallisieren. Und wenn man dabei nur zu dem Schluss kommen sollte, dass man mit dem Humor und der Tradition hinter diesem Sketch nichts anzufangen weiß, dann ist dies selbstverständlich ganz genauso in Ordnung. Am Ende ist es ja doch Geschmackssache und das Ende eines Jahres sollte von jedem so gefeiert oder nicht gefeiert werden, wie er es für richtig hält. Doch was "Dinner For One" so auszeichnet, ist nicht seine gewaltige Humorqualität (über die man schließlich streiten kann), sondern etwas ganz anderes. Während der eine Teil der Menschheit am 31. Dezember zurückblickt auf das was war und der andere Prognosen stellt für das, was sein wird, ist da eben immer die ruhige Gewissheit im Hintergrund, dass zumindest "Dinner For One" wie das Amen in der Kirche immer da war und immer da sein wird und zumindest für kurze Zeit die ganze Familie (mehr oder weniger freiwillig) vor der Flimmerkiste versammelt, bevor das große Geböllere losgeht. Und wie Miss Sophie ganz offensichtlich begriffen hat, geht es eben nicht um die großen Feierlichkeiten, um ein ausgefallenes Essen, um viel Tamtamm oder um einen guten Alkohol an einem solchen Tag. Es geht darum, ihn mit den Menschen zu verbringen, die man gerne um sich haben möchte. Völlig irrelevant, welche Hindernisse sich dort einem bieten.
Einen guten Rutsch und ein frohes neues Jahr euch allen! 