400
von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Toy Story
Das deutsche Wort „Spielzeug“ ist genau betrachtet ziemlich degradierend: Die Rede ist bloß von „Zeug“, von belanglosen Objekten. Auch von „Spielsachen“ spricht man. Dabei weiß jedes Kind, dass in seinem Zimmer mit kleinen Figuren aus Kunststoff, Holz oder Metall eigene Geschichten erfunden und gespielt hat, wie viel Seele ein Spielzeug haben kann. Sie sind für die Kleinsten unter uns echte Freunde, Gefährten, mit denen man die tollsten Abenteuer erlebt, welche sich die Fantasie nur vorstellen kann. Doch wie sieht es in so einem Spielzeug aus? Sobald sie gefertigt wurden und in die Hände eines Kindes kommen, dreht sich ihr ganzer Lebensinhalt darum, Freude zu spenden. Könnten sie fühlen, was wäre wohl ihre größte Angst? Vermutlich in Vergessenheit zu geraten, nicht mehr gebraucht zu werden. Jedes Kind wird schließlich eines Tages älter – und hört auf zu spielen. Dieser originelle Perspektivwechsel ist keine rein philosophische Überlegung, sondern die Prämisse eines besonderen Films, des ersten vollständig computeranimierten Spielfilms aller Zeiten. Wie passend: Was sind Filmkünstler, wenn nicht spielende Kinder? Was sind ihre Charaktere, wenn nicht Spielzeuge? Was ist ein Film, wenn nicht eine große „Toy Story“?
Nach dem oscargekrönten CGI-Kurzfilm „Tin Toy“, bei dem ebenfalls ein Spielzeug im Mittelpunkt steht, hatte die Animationsfilmschmiede Pixar (eine ehemalige Forschungsabteilung des „Star Wars“-Regisseurs George Lucas) große Ambitionen, ein erstes Langfilmprojekt in Angriff zu nehmen. Doch „Toy Story“ ging vor seiner Veröffentlichung 1995 durch die Produktionshölle. Um das aufwendige Unterfangen überhaupt finanzieren zu können, ließ man sich auf Disney als Geldgeber ein. Und die Micky-Maus-Brutstätte hatte kein Interesse daran, nur zu zahlen: Das Studio hatte durch Mega-Hits wie „Arielle, die Meerjungfrau“, „Die Schöne und das Biest“ und „Aladdin“ eine Renaissance erlebt. So mischte sich der Geldgeber in den Prozess ein, das Drehbuch wurde mehrfach komplett umgeschrieben. Bei einer Version geriet die Hauptfigur, eine Cowboy-Aufziehpuppe namens Woody, gar zu einem tyrannischen Kinderzimmer-Diktator. Ein unverfilmbares Desaster. Nur zwei Wochen blieben Regisseur John Lasseter und seinem Team von da an, um das Projekt zu retten.
Von all dem ist in „Toy Story“ nichts zu sehen, im Gegenteil: Der Film, an dem unter anderem der spätere "Avengers"-Regisseur Joss Whedon mitschrieb, ist eine Offenbarung. Er muss sogar als Wunder bezeichnet werden! Die Vermutung lag immerhin nahe, der erste vollständig computeranimierte Film würde sich hauptsächlich auf sein komplexes Gimmick fokussieren, eine Technikdemonstration werden. Weit gefehlt: „Toy Story“ begeistert und fasziniert durch ein ausgeklügeltes, intelligentes Drehbuch und bietet eine emotionale Achterbahnfahrt für Jung und Alt. Die Kreativität des Plots und der Welt, in die er spielt, lässt sich nur bewundern: Immer, wenn der kleine Andy nicht in seinem Kinderzimmer ist, erwachen alle seine Spielzeuge zum Leben. Sie leben in ihrer eigenen Hierarchie. Andys Lieblingsspielzeug Woody ist ein Anführer für seine Mitstreiter. Große Augen machen alle, als Andy zu seinem Geburtstag ein neues Spielzeug bekommt, den High-Tech-Astronauten Buzz Lightyear, der nach und nach Woody aus Andys Herz verdrängt.
Der Blick in den Mikrokosmos von Andys Zimmer alleine zeigt mühelos, dass die kreativen Köpfe von Pixar in ihrer eigenen Liga spielen: Die Figurenzeichnung ist in wenigen Minuten, teils Sekunden, auf den Punkt, entstammen die Charakterzüge doch den jeweiligen Eigenarten des Spielzeugs: Dinosaurier Rex zum Beispiel ist ein billiges Plastikspielzeug, sein Schwanz ist nur dürftig grün besprüht. Kein Wunder also, dass diese Figur, die eigentlich ein mächtiges Raubtier darstellt, starke Minderwertigkeitskomplexe hat. Eine andere Figur, Mr. Potato Head, ist ständig genervt – und wer wäre das nicht, würde ihm auch bei jeder Gelegenheit das Gesicht abfallen? Das Kernstück der Erzählung sind aber Woody und Buzz. Ihr Konflikt ist tatsächlich historisch belegt: In den 1950ern, als das Western-Genre einen Kassenknüller nach dem nächsten erzeugte, gab es einen Boom an Cowboy-Figuren. Durch die aufkommende Weltraumeroberung im Zuge des Sputnik-Programms wurden die Cowboys von den Astronauten verdrängt – so wie Woody von Buzz.
Aber es ist noch etwas komplizierter: Buzz weiß gar nicht, dass er ein Spielzeug ist, sondern glaubt sich als echter Space Ranger. Die Lampe in seinem Arm hält er für einen Laserstrahl. Seine kaputte Verpackung, sein „Raumschiff“, gibt er glatt in Reparatur. Woody versucht sich als Stimme der Vernunft, vergeblich: Buzz lebt in einer Illusion. Schon hier zeigt sich, wie komplex die Handlung aufgebaut ist. Beide Hauptfiguren müssen eine schwierige, tiefsinnige Wandlung durchmachen. Woody muss seinen Neid überwinden und akzeptieren, dass er die Liebe von Andy nicht für sich allein beanspruchen darf. Buzz hingegen steht irgendwann unweigerlich vor der Erkenntnis, in einer Traumwelt zu leben. Es ist eine großartige Szene, als er spät im Film auf einen Fernseher starrt, auf dem ein Werbespot für eine Buzz-Lightyear-Actionfigur sieht und in seinen Augen sichtbar etwas zerbricht. Ein Spielzeug verlässt Platons Höhle.
Vordererst war „Toy Story“ eine technische Revolution, ein Meilenstein der Filmgeschichte. Doch gerade solche können schnell veralten: An beeindruckenden Spezialeffekten nagt der Zahn der Zeit am stärksten. Die Figuren jedoch sehen heute immer noch überzeugend aus – und wurden u.a. auch deshalb gewählt, weil sie allesamt aus Plastik sind, somit leichter zu animieren waren. Allerdings katapultierte Pixar in späteren Filmen die Möglichkeiten des Mediums in neue Höhen, die ihren Erstling längst überschatten. Und doch hat „Toy Story“ seine Stellung als Meisterwerk des Kinos nie eingebüßt. Weil das, was da vor den damals noch minimalistisch-animierten Hintergründen umgesetzt wurde, ein Musterbeispiel für großartiges, einfallsreiches Filmemachen darstellt. In nur 81 Minuten erzählt Lasseter eine starke und abwechslungsreiche Geschichte, deren Ausgangspunkt für einen Kinderfilm gewagt ist: Aus Eifersucht schubst Woody den verhassten Buzz (wenn auch etwas unfreiwillig) aus dem Fenster und wird für diesen versuchten Mord von den anderen Spielzeugen hinterhergeworfen. Von nun an muss das ungleiche Duo mehrere Strapazen und Actionszenen überstehen, um den Weg nach Hause zu finden und sich zusammenzuraufen.
Die Kompromisslosigkeit, mit der „Toy Story“ ein ganzes Genre umkrempelte, ist bemerkenswert. Bei all den Risiken, die Pixar mit der kritisch beäugten Computeranimationstechnik einging, ist es umso erstaunlicher, wie mutig auch die Geschichte des Films ist. Nicht genug, dass die entscheidende Tat des Films Hauptfigur Woody potenziell zum Unsympathen werden lässt, ist „Toy Story“ auch ein radikaler Bruch mit der klassischen Disney-Formel: Der Film ist kein Märchen, hat nur ganz am Rande Ansätze einer Liebesgeschichte, ist nicht einmal ein Musical. Stattdessen erzählt Lasseter seinen Geniestreich als charakterzentriertes Buddy-Movie in der Tradition von „Lethal Weapon“, als postmodernen Actionfilm, dessen großes, perfekt inszeniertes Crescendo (eine wilde Verfolgungsjagd aus dem Lehrbuch) so nur durch die berauschenden virtuellen Kamerafahrten möglich wurde. Und statt Muscialeinlagen rotzt in mehreren funkigen Blues-Songs aus dem Off die Stimme von Soundtrack-Komponist Randy Newman durch die Szenerie – nicht mehr und nicht weniger als ein brillanter Einfall.
Es ist wenig überraschend, dass „Toy Story“ auf lange Sicht das Ende des Zeichentrickfilms einläutete. Woody und Buzz sind dermaßen fantastisch charakterisiert, wohlüberlegt geschrieben und wirken dank ihrer dreidimensionalen Optik umso authentischer, sodass sie allein Grund genug waren, in die bis dato noch in den Kinderschuhen steckende Technik zu investieren. Wenige Jahre später war der Hype bereits so weit, dass bei den Oscars eine eigene Kategorie für den Besten Animationsfilm eingeführt wurde. Dass Woody und Buzz auf der Leinwand mehr Emotionen wecken als mancher Hollywood-Star, mag daran liegen, weil sie von welchen gesprochen werden. Ursprünglich waren Paul Newman und Jim Carrey angedacht, am Ende entschied man sich für die Paarung aus Oscar-Preisträger Tom Hanks für Woody und Sitcom-Ikone Tim Allen für Buzz. Beide transportieren durch ihre Stimmen eine mannigfaltige Palette an Gefühlen und füllen die Figuren mit Leben. Sie sind definitiv kein „Spielzeug“, sondern echte Helden.
„Toy Story“ ist alles, was Kino sein soll: Aufregend, mutig, witzig, intelligent, unterhaltsam und tief bewegend. Die Geburtsstunde der Innovationsschmiede Pixar war ein Triumph in mehrfacher Hinsicht. Sie lancierte zwei neue Ikonen in Millionen von Kinderzimmern, eroberte vielfältige Möglichkeiten der visuellen Darstellungsform und bewies eindrucksvoll, wie gelebter Enthusiasmus große Kunst schaffen kann. Und an noch etwas erinnert der Film: Wie wertvoll es ist, auch als Erwachsener das Spielen nicht zu verlernen. In der Fantasie gibt es schließlich wie im Kino keine Grenzen. Oder – wie Buzz Lightyear zu sagen pflegt – dort geht es „bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter“.
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/
Let the sheep out, kid.