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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Da muss ich leider in den Tenor einstimmen...
Mary Poppins' Rückkehr
Selbst den unkritischsten Zuschauern ist mittlerweile bekannt, wie wenig Skrupel die Produzenten von Disney dabei kennen, aus alten Filmstoffen neues Geld zu scheffeln. Das erreichte seinen Höhepunkt mit der Rückkehr der Marke "Star Wars" im Jahre 2015 und erstreckte sich über zahlreiche bereits erschienene oder geplante Realfilm-Remakes alter Zeichentrickklassiker. "Das Dschungelbuch" oder "Die Schöne und das Biest" sind längst neuaufgelegt, für die nächste Zeit sind u.a. "Der König der Löwen", "Dumbo", "Mulan", "Susi & Strolch" und "Aladdin" geplant. Als jedoch angekündigt wurde, dass Disney ganze 54 Jahre nach "Mary Poppins" von Robert Stevenson eine Fortsetzung mit Emily Blunt in der Kultrolle von Julie Andrews schlechthin geplant sei, war die Skepsis hoch, gilt dieser Musicalmeilenstein doch als eines der heiligen Kühe der Unterhaltungsindustrie. Kann eine solche Fortsetzung, die im Übrigen bislang späteste ihrer Art in der Filmgeschichte, überhaupt funktionieren?
In der Filmzeit zwischen "Mary Poppins" und "Mary Poppins' Rückkehr" sind zwar keine 54, aber dennoch etwa 25 Jahre vergangen. Der träumerischen, end-viktorianischen Zeit der Fin de siècle des Vorgängers folgt nun der "Great slump", die Depressionsära, und obgleich London auch in dieser filmischen Bühnenschau wie einer Postkarte entnommen anmutet, ist der Einstieg deutlich wehmütiger und schwerer als einst im Original. Entpuppte sich der Kernkonflikt um die Banks-Kinder Michael und Jane dort als Spannung zwischen ihrem strengbürgerlich auftretenden Vater und ihrem eigenen kindlichen Freiheitsstreben, ist der Grund für Mary Poppins Erscheinen diesmal ein ernsterer. Michael hat vor kurzem seine Frau bei einem Unfall verloren, ist mit seinen eigenen drei Kindern überfordert und wird von der Bank aus seinem Haus geschmissen. So überrascht Disney schon zum zweiten Mal im Kinojahr 2018 mit einer erstaunlich selbstreflexiven Fragestellung. Bereits in "Christopher Robin" zeigte Marc Forster den einstigen besten Freund von Winnie Puuh als desillusionierten Erwachsenen, der von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geprägt wurde, und fragte, was von der Magie der Kindheit später übrig bleibe. Auch Michael und Jane sind kaum noch als ihre frühpubertären Kinds-Versionen wieder zu erkennen. Und so verwundert es nicht, dass Mary Poppins bei ihrem ersten Auftritt betont, sie sei erneut gekommen, um sich um die Banks-Kinder zu kümmern, wobei sie Michael und Jane ganz direkt miteinschließt.
Natürlich ist "Mary Poppins' Rückkehr" aber kein angestrengtes Sozialdrama und auch wenn kurzzeitig Schlangen vor den Suppenküchen und die Londoner Arbeiterbewegung angesprochen werden, müssen diese sozialen Themen allzu bald guter Laune und tanzenden Menschen weichen. Rob Marshall nutzt die Trostlosigkeit dieser historischen Epoche für einen Appell an den Geist der Einfachheit und für eine Rückbesinnung auf die "glücklichere" Vergangenheit. Nostalgie wird hier großgeschrieben, und Musicial-Routinier Marshall erzählt die verschiedenen Abenteuer von Mary und den drei Banks-Kindern mit Verve und deutlicher Reminiszenz an den Stil des Originals. In einem langen Ausflug geht es so erneut in eine Fantasie-Welt, die ganz im 1960er-Zeichentrickstil gestaltet wurde, und auch wenn keiner der legendären Songs des 64er Films wie "Chim Chim Cheree" oder "Supercalifragi..." neu aufgenommen wurde, erinnern die neuen, teils wunderbar komponierten Lieder überdeutlich an ihre Vorbilder. Und überhaupt ist diese "Rückkehr" fast schon überfüllt mit dem Gefühl des Vertrauten. Der Charakter des Lampenanzünders Jack kommt wie eine Kopie des Schornsteinfegers Bert daher, nur das Lin-Manuel Miranda zu keiner Sekunde an Dick van Dyke heranreicht (der dafür selbst einen famos-ironischen Cameo spendiert bekommt). Die großen Wendungen der Geschichte sind nahezu identisch mit jenen zarten Dramatisierungen in Stevensons Film. Und selbst die großen Starauftritte von Meryl Streep und Colin Firth sind zwar einerseits wunderbar gelungen, und leiden andererseits doch darunter, dass auch ihre neuen Figuren eigentlich keine sind. Streeps "Topsy" ist der Ersatz für die Nummernrevue des Onkel Alberts im Vorgänger und Colin Firth der nächste Mr. Dawes, der den kalten Kapitalismus des Bankenwesens zur Schau stellt.
Nostalgisch veranlagten Zuschauern wird das nicht viel ausmachen, denn die bekommen hier genau das geboten, was sie erwartet haben: Eine exakte Reanimation eines Kinokults, der seine anfänglich neue Wehmut durch ein Loblied auf alte Werte verdrängt. Und dagegen wäre bei einer so späten Fortsetzung gar nicht mal etwas zu sagen, wenn "Mary Poppins' Rückkehr" nicht viel mehr Remake als Sequel wäre. Dadurch entsteht einmal zu oft der Eindruck, Marshall habe so sehr auf Nummer Sicher gehen wollen, dass er vergessen hat, eigene Akzente zu setzen. Die kommen dafür von jemand ganz anderem: Was Emily Blunt in der Titelrolle veranstaltet, ist genau jene Magie zu verbreiten, die in Marshalls kalkuliertem "Mary-Poppins-Best-Of" etwas zu sehr auf der Strecke bleibt. Blunt emanzipiert sich durch ihre ihr eigene Strenge und Bestimmtheit sofort von Andrews' Interpretation der Rolle, gewinnt so aber auf ihre Weise die Herzen der Zuschauer, wenn sie nach einer kurzen Maßregelung plötzlich mit funkelnden Augen in voller Montur in der Badewanne versinkt und singend durch eine märchenhafte Unterwasserwelt gleitet. Sie ist der Motor, der den Film immer wieder vor dem Eindruck bewahrt, rein wirtschaftlich motiviert zu sein, und in der sich alle pädagogischen Ansätze der Rolle vereinen. Die Lebensphilosophie, die Mary-Poppins-Erfinderin P. L.Travers in ihren Romanen einst ausdrücken wollte, die unschönen Einflüsse des Lebens aus der Distanz mit Humor zu nehmen und seine Fantasie zu beanspruchen, artikuliert sie nicht über die Songtexte, sondern einzig über ihre Ausstrahlung und Spielfreude. Mehr von dieser Kraft und Eigenständigkeit hätte es für "Mary Poppins' Rückkehr" gebraucht, um sich als Fortsetzung oder besser: Fortführung der Themen und Figuren des Vorgängers zu behaupten.
Fazit: Letztlich ist "Mary Poppins' Rückkehr" einer jener Filme, denen man längst nicht so böse sein kann, wie man vielleicht möchte. Denn auch wenn die sklavische Nachahmung des Originals nicht sonderlich originell daherkommt, so funktioniert sie als quietschbunter Musical-Eskapismus für Jung und Alt mit einigen wirklich schönen Szenerien. Dank der famosen Emily Blunt gelingt so ein 131 minütiges Seufzen darüber, wie schön die eigene Kindheit doch war, als man sich noch von "Mary Poppins" verzaubern lassen konnte. Und mehr als das wollte Rob Marshall vermutlich gar nicht abliefern. Sein Ziel, kurzzeitige Unterhaltung nach vertrauten Mustern, hat er zweifellos erreicht - einen neuen Klassiker schafft man so aber nicht.
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Let the sheep out, kid.