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Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 13. April 2022 00:55
von HCN007
iHaveCNit: A Hero (2022) – Asghar Farhadi – Neue Visionen Filmverleih
Deutscher Kinostart: 31.03.2022
gesehen am 12.04.2022
Arthouse-Kinos Frankfurt – Kleine Harmonie – Reihe 3, Platz 9 – 20:00 Uhr
Natürlich gehört auch der neue Film von Asghar Farhadi zu den für mich interessanten Kinostarts aus dem März 2022, den ich nun auch mit „A Hero“ abschließen kann. Genau wie Anfang Februar „Die Ballade von der weißen Kuh“ sind Filme mit gesellschaftskritischen und moralisch sehr ambivalenten Themen genau das Ding des modernen iranischen Arthouse-Films. Und Beide Filme aus diesem Jahr haben mir ähnlich gut gefallen.
Rahim Soltani ist aktuell in Haft, weil er seinen zu hohen Schuldenberg nicht bewältigt bekommt. Bestandteil seiner Haftstrafe sind auch immer 2 Tage in Freiheit. Neben der Zeit mit seiner Familie und seiner Freundin versucht er auch alles Mögliche finanzielle Mittel aufzutreiben, damit er sich freikaufen und auch seine Schulden loswerden. Seine Freundin hat durch Zufall eine Tasche mit Goldmünzen gefunden, die eigentlich durch einen Tausch bei einem Pfandleiher zu Geld gemacht werden sollen, doch beim Pfandleiher kommt Rahim eine Idee, die trotz aller guter Absichten ihn in eine Abwärtsspirale befördern, bei der er nicht ahnt, was für ein großer Rattenschwanz sich damit in Bewegung gesetzt hat.
Farhadi hat mit „A Hero“ ein gesellschaftlich sehr dichtes, kritisches und durchaus auch menschliches Drama geschaffen, dass im Kern die Geschichte eines einfachen Mannes ist, der das Richtige tun will und nicht ahnt, in welche falsche Richtungen sich das alles entwickeln kann. Diese Geschichte über Menschlichkeit, Schuld und Sühne, Moral und Ethik sowie den Ehrbegriff in der iranischen Kultur hat mir gut gefallen, auch wenn natürlich der ein oder andere Schlenker in der Handlung selbst vielleicht ein wenig zu viel gewesen sein kann und der Film mich nicht ganz emotional ergriffen hat. Erfrischend finde ich es aber durchaus, dass der Film mit seiner interessanten Thematik und dem Handlungsverlauf doch relativ unvorhersehbar und damit auch spannend ist.
„A Hero“ - My First Look – 8/10 Punkte.
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 14. April 2022 11:21
von HCN007
iHaveCNit: The Lost City (2022) – Adam Nee / Aaron Nee – Paramount
Deutscher Kinostart: 21.04.2022
gesehen am 13.04.2022 in der Sneak
Kinopolis Main-Taunus-Zentrum – Kino 9 – Reihe 9, Platz 15 – 21:00 Uhr
Von meiner Kino-Bucket-List kann ich nun auch einen weiteren Punkt streichen. Ich hatte einfach mal vor, eine ganz normale Sneak-Preview zu besuchen. Für einen Ticketpreis von 4,50 Euro und einem freien Mittwoch Abend ist das auch eine sichere Bank und einfache Entscheidung gewesen. Wie immer sind die Regeln bei einer Sneak-Preview klar – man weiß, dass man in Kino geht, nur nicht um welchen Film es sich handelt, bis er dann auch tatsächlich auf der Leinwand erscheint. Dieses Mal hat es sich gut getroffen, denn „The Lost City“ stand tatsächlich auf meiner Planung für die Starts vom 21.04.2022 und so habe ich mich nach reiflicher Überlegung dazu entschieden, den Film mit der Sneak von meiner Liste abzuhaken und nicht noch einmal extra in einer normalen Vorstellung zu sehen. Warum ? Das wird man anhand meiner Meinung zum Film ableiten können.
Loretta Sage ist Buchautorin. Nach dem Tod ihres Mannes, der Ärchäologe war, hat sie eine erfolgreiche Buchreihe geschaffen, in der die Titelcharakterin ihr selbst empfunden zu sein scheint und in der es um Abenteuer, Action und Romanzen geht. Ihr männlicher Gegenpart ist dem Männermodel Alan empfunden, mit dem sie eigentlich gar nicht harmoniert. Bei einer Promotour für das neue und letzte Buch der Reihe wird Loretta von dem reichen Briten Fairfax entführt, der ihr offenbart, dass scheinbar das im neusten Buch enthaltene Rätsel mit einem tatsächlich existierenden Schatz zu tun hat und er mit ihrer Hilfe diesen Schatz finden will. Währenddessen macht sich Alan mit einem kampferprobten Trainer auf die Suche nach Loretta.
„The Lost City“ ist klassisches Popcorn-Kino mit einer Mischung, die im Kino nur allzu gut aufgeht. Mit Elementen von Abenteuer, Action, Comedy und Romanze garniert mit einem bekannten Staraufgebot mit Sandra Bullock, Channing Tatum, Daniel Radcliffe und Brad Pitt kann eigentlich nichts schief gehen. „Eigentlich“, denn der doch relativ schnörkellose Plot und das Abenteuer ist sehr generisch nach Schema F gestrickt und so unterhaltsam und witzig die Situationen sind, in die vor allem das Duo aus Bullock und Tatum geschmissen werden, umso nervig, überdreht und unfreiwillig komisch können diese sein. Ich hatte meinen Spaß mit „The Lost City“, auch wenn er nicht ganz der große Wurf gewesen ist.
„The Lost City“ – My First Look – 6/10 Punkte
Dieselbe Prozedur wie jeden Tag
Verfasst: 14. April 2022 12:33
von Casino Hille
Was vom Tage übrigblieb
„Ein guter Butler verfügt über Würde im Einklang mit seiner Position“, heißt es in einer Schlüsselszene von „Was vom Tage übrigblieb“. In diesem Moment, irgendwann in den 1930er Jahren, sitzt das Personal des Landsitzes Darlington Hall zusammen bei Tisch. Am Kopfende spricht der den Ton angebende Butler James Stevens. Sein ganzes Lebensziel, so wird in dieser Szene sehr deutlich, ist die des Dieners. Alles was er tut, verfolgt die Ambition, seinem Arbeitgeber, den angesehen Lord Darlington nach besten Kräften zu versorgen. Mit am Tisch sitzt sein Vater Stevens Senior, der ebenfalls sein ganzes Leben lang gedient hat und seinem Sohn – ihre Dynamik zeigt es – nur diesen Wert vermitteln konnte: Immer die Würde wahren. Um jeden Preis.
Als später der Senior sehr krank wird und schließlich verstirbt, findet in Darlington Hall gerade eine wichtige politische Konferenz statt. Die Haushälterin Miss Kenton zieht Stevens zur Seite: „Es tut mir sehr leid. Ihr Vater ist vor vier Minuten von uns gegangen“, sagt sie mitfühlend. „Ich verstehe“, antwortet Stevens. Auf die Frage, ob er seinen toten Vater sehen möchte, meint er nur: „Ich habe im Moment sehr viel zu tun“ und „Mein Vater würde wünschen, dass ich mit meiner Arbeit fortfahre“. Die ganze Szene ist er nur im Dunkeln oder von hinten zu sehen. Selbst wenn Mr. Stevens hier für eine Sekunde eine Gefühlsregung gezeigt haben sollte: Die Kamera wahrt für ihn sein Gesicht.
Die vielfach preisgekrönte, gleichnamige Romanvorlage des japanisch-britischen Autoren Kazuo Ishiguro ist ein Werk der Introspektive. Alle Erkenntnisse, alle Gedanken formulieren sich aus dem Inneren der Figuren heraus. Deswegen galt das Buch gleich bei seiner Veröffentlichung als „unverfilmbar“. Um das Gegenteil zu beweisen, trat das Triumvirat der Produktionsstätte „Merchant Ivory Productions“ an: Regisseur James Ivory, sein Lebensgefährte und Produzent Ismail Merchant sowie die Drehbuchautorin Ruth Prawer Jhabvala. Zusammen hatten sie zwischen 1961 und 2005 über zwanzig Produktionen verwirklicht, viele davon urbritische Kostümfilme, zumeist Literaturadaptionen.
Doch obwohl viele ihrer Arbeiten, darunter Hits wie „Die Damen aus Boston“ und „Zimmer mit Aussicht“ sowohl Publikum als auch Kritiker begeistern konnten, sollte erst „Was vom Tage übrigblieb“ ihr Magnum opus werden, ein Film von so meisterlicher Eleganz, dass er wie seine Vorlage als brillant einzustufen ist, diese in Teilen gar übertrifft. Erst wollte Mike Nichols das Projekt übernehmen und die Protagonisten, Butler Stevens und Haushälterin Kenton, mit Jeremy Irons und Meryl Streep besetzen. Als Ivory an Bord kam, vereinte er stattdessen wieder das Traumpaar seines vorherigen Films „Wiedersehen in Howards End“: Anthony Hopkins und Emma Thompson.
Der Film beginnt 1956: Nach dem Tod von Lord Darlington wird sein Anwesen an den US-amerikanischen Ex-Politiker Jack Lewis versteigert. Er übernimmt die gesamte Belegschaft, darunter den treuen Stevens. Durch einen Briefwechsel mit Miss Kenton, die Darlington Hall vor langer Zeit den Rücken kehrte, erinnert sich Stevens an ihre gemeinsame Zeit. Er beschließt, nach Südwestengland zu fahren und sie nach Jahren wiederzusehen – vorgeblich, weil er sie erneut als Haushälterin anwerben will.
Ein Großteil des Films spielt nun in den Erinnerungen von Mr. Stevens. James Ivory zeichnet anhand des übertrieben aufopferungsvollen Butlers ein bestechendes Porträt der englischen Aristokratie und erzählt vom Klassensystem des imperialen Zeitalters: Stevens hat in Darlington Hall einen festen Platz, ein klar definiertes Schicksal. Sein einziger Traum darf darin bestehen, diese Rolle so perfekt wie möglich auszufüllen. Seinem Herrn vertraut er blind. Die Überzeugungen des Mannes spielen dafür keine Rolle, entscheidend ist allein das gesellschaftlich eindeutige Verhältnis zueinander. Großbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg, zeigt Ivory auf, atmete die letzten Züge des Neo-Feudalismus.
Dabei legt er seine Finger in eine Wunde, mit der das Vereinigte Königreich nur ungerne konfrontiert wird: Die historische Rolle, die der englische Adel beim Aufstieg des deutschen Faschismus spielte. Darlington, piekfein von James Fox verkörpert, ist treuer Anhänger der Appeasement-Politik von Neville Chamberlain. Er empfand den Versailler Vertrag als Verrat am deutschen Volk. Seine Sympathien für das im Ersten Weltkrieg besiegte Deutschland verpflichten ihn, so glaubt er, in Friedensgesprächen zwischen Großbritannien und den Nationalsozialisten zu vermitteln. Über die Jahre gehen viele Herrschaften in Darlington Hall ein und aus, darunter fanatische Anhänger der Schwarzhemden-Organisation, die offen von einem faschistischen Putsch träumen, und Botschafter des Deutschen Reichs.
Obwohl Ivory auch Idealisten zeigt, darunter des Lords Patenkind, der Journalist Reginald Cardinal, oder jener Jack Lewis, der später in Darlington Hall wohnen wird, ist sein politisches Drama von einer lustvollen Janusköpfigkeit durchzogen: Zum einen ist seine makellose, durchweg inspirierte Regie von einer nostalgischen Sehnsucht geprägt, die jede Möglichkeit erlaubt, sich in der sentimental-verklärten Bourgeoisie zu suhlen. Zum anderen genießt er es, diese Idylle des Upper Class Großbritanniens aufzubrechen, sie einzureißen. Mag der Film anfangs noch Bewunderung für Mr. Stevens auslösen, der beharrlich sein ganzes Dasein dem Dienen widmet, schlägt es in Frustration um, als klar wird, wie fehlgeleitet seine Loyalität Darlington gegenüber ist.
In einer phänomenal deprimierenden Szene etwa zitiert der Lord seinen Butler zu sich, um über die deutschen Flüchtlingsmädchen Elsa und Irma zu sprechen, die unter Mr. Stevens als Dienstmädchen arbeiten. Der Lord wünscht, dass die Mädchen entlassen werden. Als Stevens Bedenken äußert, platzt es aus Darlington heraus: „Sie sind Juden.“ Miss Kenton ist schockiert. Sie droht mit Kündigung. Und auch Stevens ist dabei nicht wohl. Dennoch führt er den Befehl aus. Sein Herr und er sind gar nicht so verschieden: Sie beide sind vor lauter Prinzipientreue zu blind, um zu sehen, auf welche Irrwege sie geführt werden.
Miss Kenton macht ihr Vorhaben nicht wahr. Sie bleibt, und es wird mit jeder Szene klarer, wieso. Sie entwickelt Gefühle für den ihr so rätselhaften Mr. Stevens. Wiederholt drängt sie nun um seine Zuneigung, doch er flieht davor. Er kann und will sie nicht an sich heranlassen – dabei ist längst klar, dass auch er etwas fühlt. Kein Wunder also, dass Ivory für diesen enorm schwierigen Part unbedingt Anthony Hopkins wollte. Er liefert ab: Der Jahrhundertschauspieler war nie besser, seine Leistung ist nuanciert, grandios, wahrhaftig. Dasselbe gilt für Emma Thompson, die die aufkeimende Liebe und ihre verwirrende Faszination für den Butler hervorragend spielt und einem gar das Herz bricht, als sich bei ihr die Erkenntnis breit macht, dass diese Gefühle nie eine Zukunft haben werden.
Die restliche Besetzung ist nicht weniger großartig. Als verliebtes Hausmädchen ist Lena Headey in einer ihrer ersten Rollen zu sehen, sie wurde zwanzig Jahre später durch die Fantasyserie „Game of Thrones“ zum Star. Charakterdarsteller Michael Lonsdale mimt grandios einen französischen Abgesandten, der – statt über Politik zu diskutieren – ausschließlich über seine geschwollenen Füße lamentiert. „Superman“-Ikone Christopher Reeve repräsentiert in der Rolle des Lewis die Stimme der Vernunft, als er seiner Lordschaft vorwirft, er sei ein Amateur und ihn vor „Frieden um jeden Preis“ warnt. Der integre Reginald Cardinal wird zudem exzellent vom jungen Hugh Grant verkörpert, der erst ein Jahr später durch „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ zum englischen Superstar avancierte.
Nicht genug Lob lässt sich über die Ausstattung verlieren: Die Kostüme allein sind über jeden Zweifel erhaben und geprägt von einem weitreichenden Verständnis für die traditionsreiche britische Hochkultur. Mehrere englische Landhäuser zum Einsatz für die edlen Aufnahmen des Kameramanns Tony Pierce-Roberts. Über die vollen 134 Minuten begeistert außerdem die gefühlvolle Musik des Pianisten Richard Robbins, der regelmäßig an Merchant Ivory Produktionen mitwirkte. Dennoch ging Ivorys Romanadaption bei den großen Preisverleihungen 1993 leer aus. Zu in sich gekehrt, zu ruhig, konzentriert, langsam und introvertiert war sie, als dass sie gegen andere, in ihrer Absicht direktere Werke wie das Holocaustdrama „Schindlers Liste“ oder den Liebesfilm „Das Piano“ eine Chance gehabt hätte.
Ivorys Herzschmerzkino ist ein großer Abgesang auf vertane Lebenschancen. Der finale Geniestreich erschließt sich aber erst im Vergleich zur Romanvorlage. Dort erlebt Mr. Stevens auf den letzten Seiten als alter, gebrochener Mann ein Umdenken. Er beschließt, die alte steife Butler-Ideologie loszulassen und seine letzten Lebensjahre zu genießen. Der Film jedoch endet fatalistisch, tragisch und tieftraurig. Stevens beharrt auf seiner Würde, wählt seine Pflichten und damit die Einsamkeit. „Es hat keinen Sinn, über vergossene Milch zu klagen“, sagt er einmal. Und so verbleibt er in Darlington Hall, wahrt vermeintlich den längst vergangenen Stolz der britischen Aristokratie, und bleibt allein mit der Frage, was vom Tage übrigblieb.
Re: Dieselbe Prozedur wie jeden Tag
Verfasst: 14. April 2022 12:41
von AnatolGogol
Casino Hille hat geschrieben: 14. April 2022 12:33
Was vom Tage übrigblieb
Hille, können Sie mir bitte eine Schüssel Wasser und etwas Salz bringen?
Tolle Kritik eines grandiosen Films, stimme in allem mit dir überein (nur hätte ich es nicht so gut formulieren können).
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 15. April 2022 12:14
von HCN007
iHaveCNit: The Innocents (2022) – Eskil Vogt – Capelight Pictures
Deutscher Kinostart: 14.04.2022
gesehen am 14.04.2022
Arthouse-Kinos Frankfurt – Große Harmonie – Parkett - Reihe 4, Sitz 9 – 20:45 Uhr
Oft reichen nur wenige gute Wertungen im Vorfeld dazu, dass mein Interesse an einem Film geweckt wird. Im Fall von Eskil Vogts „The Innocents“ war das so. Und selten war eine Vorfreude auf einen Film so gerechtfertigt gewesen wie bei „The Innocents“, der eines der ganz großen Highlights des Filmjahres 2022 ist.
Ida und ihre große Schwester Anna ziehen mit ihren Eltern in eine Hochhaussiedlung. Da Anna nonverbal autistisch ist und mehr Aufmerksamkeit ihrer Eltern benötigt und Ida dem Umzug nicht so wohlwollend gegenübersteht, geht sie nach draußen auf den Spielplatz und trifft den jungen Ben, der ihr im naheliegenden Waldstück seine feinen übernatürlichen Kräfte präsentiert. Nicht nur Ben scheint übernatürliche Kräfte zu besitzen – die ebenfalls im Wohnblock lebende Aisha scheint eine ganz besondere Verbindung zu Idas Schwester Anna zu haben. Je mehr sie diese Fähigkeiten ausloten, umso mehr entspinnt sich eine grausame Abwärtsspirale.
„The Innocents“ entführt uns mit einer unfassbar empathischen Art in die Welt der Kinder. Mit welchem Feingefühl der Regisseur Eskil Vogt hier sowohl die Regeln dieser Welt, die Gefühle der Kinder und auch die Grenzen von Moral auslotet ist großartig. So manch einer könnte bei der Idee des Films automatisch an Filme wie „Brightburn“ oder auch „Chronicle“ - den ich noch nicht gesehen habe – denken und vielleicht auch ein wenig an X-Men – aber der Film ist der extreme Gegenentwurf zu „X-Men“ und verbindet das Ganze mit einer feinen Milieu- und Sozialstudie. Der gesamte Aufbau des Films schafft eine Spannung und Unbehagen, wie ich es vor allem auch bei den Slowburnern „Hereditary“ und „Midsommar“ von Ari Aster erlebt habe. Die Spannungs- und Gewaltmomente, die ich in diesem Film erlebt habe sind sehr punktuell, kraftvoll und auch grausam und unangenehm. Getragen und unterstützt wird das alles von einem großartigen Quartett aus den Kinderdarstellern Rakel Lenora Flottum, Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf und Mina Yasmin Bremseth Asheim. Handwerklich ist der Film sowohl visuell durch die Kameraarbeit von Sturla Brandth Grovlen als auch audiell durch Pessi Levantos sehr unbehaglichen streicherlastigen Soundtrack und das feine Sounddesign auf Perfektion getrimmt. Über „The Innocents“ könnte man noch so viel mehr erzählen und schreiben, ich will es an dieser Stelle aber erst einmal sein lassen, denn der Film ist ein Highlight meines Filmjahres 2022 und für jeden halbwegs daran Interessierten ein Must-See.
„The Innocents“ - My First Look – 10/10 Punkte.
Re: Dieselbe Prozedur wie jeden Tag
Verfasst: 15. April 2022 13:44
von Casino Hille
AnatolGogol hat geschrieben: 14. April 2022 12:41
Casino Hille hat geschrieben: 14. April 2022 12:33
Was vom Tage übrigblieb
Hille, können Sie mir bitte eine Schüssel Wasser und etwas Salz bringen?
Einfach zu köstlich, wie unser Mr. Drax hier durch wirklich niemanden sich zu einem politischen Diskurs verleiten lässt und immer auf seine Wasserschüssel besteht.
Lonsdale ist auch deshalb so perfekt für diese Rolle, weil er eigentlich in jeden seiner Auftritte ein natürliches Phlegma eingebracht hat (einer der Gründe, warum ich seinen Bondschurken so genieße). Für diesen Part, der schon im Buch köstlich ist, konnte es eigentlich nur einen geben – umso schöner, dass es genau der geworden ist.
AnatolGogol hat geschrieben: 14. April 2022 12:41
Tolle Kritik eines grandiosen Films, stimme in allem mit dir überein (nur hätte ich es nicht so gut formulieren können).
Das freut mich sehr – obwohl ich gar nicht wusste, dass du auch so begeisterter Anhänger der Tagesreste bist! Ich hatte hier gar mal über einen Merchant Ivory Thread nachgedacht, aber war mir nicht sicher, ob der auf Resonanz stoßen könnte. Gefallen dir auch andere Merchant Ivory Produktionen? Wie findest du im Direktvergleich zu "Was vom Tage übrigblieb" den vorherigen Auftritt der Traumkonstellation Hopkins/Thompson in "Wiedersehen in Howards End"?
HCN007 hat geschrieben: 15. April 2022 12:14
„The Innocents“ - My First Look – 10/10 Punkte.
Wie ich dir privat schon schrieb: Dieses Jahr müsste viel passieren, damit der Film nicht in meinem Jahresrückblick auf dem ersten Platz landet. In Noten denke ich nicht mehr so gerne wie früher, aber 10/10 scheint mir die einzig vernünftige Beurteilung zu sein (gilt übrigens ebenso für "Was vom Tage übrigblieb", für alle, die es gerne in Zahlen mögen). Ich werde vielleicht auch mal die Chance nutzen, mehr zu dem zu tippen, allein es fehlt etwas die Zeit.
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 15. April 2022 17:10
von Gernot
Wow.. also "The Innocents" interessiert mich jetzt aber auch...!!
Re: Dieselbe Prozedur wie jeden Tag
Verfasst: 15. April 2022 17:53
von AnatolGogol
Casino Hille hat geschrieben: 15. April 2022 13:44
Einfach zu köstlich, wie unser Mr. Drax hier durch wirklich niemanden sich zu einem politischen Diskurs verleiten lässt und immer auf seine Wasserschüssel besteht.
Lonsdale ist auch deshalb so perfekt für diese Rolle, weil er eigentlich in jeden seiner Auftritte ein natürliches Phlegma eingebracht hat (einer der Gründe, warum ich seinen Bondschurken so genieße).
Absolut. Und das gilt für den älteren Lonsdale noch viel mehr, weswegen er bei Remains dann auch so grossartig passt.
Casino Hille hat geschrieben: 15. April 2022 13:44
Das freut mich sehr – obwohl ich gar nicht wusste, dass du auch so begeisterter Anhänger der Tagesreste bist!
Ja, den Film liebe ich seit Erstsichtung heiss und innig. Hier stimmt einfach alles und ich muss auch sagen, dass ich das Film-Ende deutlich passender als das Roman-Ende (welches ich vor dem Lesen deiner Kritik gar nicht kannte) finde. Stevens kann sich nicht ändern und ich bin mir nicht einmal sicher, ob er es wirklich will. Denn es würde auch einem Eingeständnis gleichkommen sein Leben verschwendet zu haben. Er mag dies im Inneren fühlen, aber zugeben und entsprechend sein Leben ändern ist eine ganz andere Sache und in diesem Sinne erscheint mit das Film-Ende stimmiger zu dem Stevens-Charakter, wie wir ihn über 2 Stunden erleben.
Casino Hille hat geschrieben: 15. April 2022 13:44Ich hatte hier gar mal über einen Merchant Ivory Thread nachgedacht, aber war mir nicht sicher, ob der auf Resonanz stoßen könnte. Gefallen dir auch andere Merchant Ivory Produktionen? Wie findest du im Direktvergleich zu "Was vom Tage übrigblieb" den vorherigen Auftritt der Traumkonstellation Hopkins/Thompson in "Wiedersehen in Howards End"?
Ich bin gar kein allzu großer Merchant-Ivory-Kenner, ich kenne da nur einige der Filme ab 1985. Und neben Remains hat mich eigentlich nur Howard's End wirklich begeistert. Der kommt für mich zwar nicht ganz an seinen "Nachfolger" ran, aber ist auch ein grossartiger Film. Allein schon die Besetzung ist hervorragend, dazu die wunderbare Rekreation des Edwardian Britain und ein sehr leichtfüssiges Storytelling zwischen Humor und Drama. Remains würde ich unumwunden 10 Punkte geben, Howard's End irgendwo zwischen 8,5 und 9.
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 16. April 2022 10:23
von vodkamartini
Ich klinke mich auch mal kurz ein. Bin ebenfalls kein großer Ivory-Kenner und auch kein Fan der Materie. Aber Was vom Tage übrig blieb ist ein Film der mich damals enorm gepackt und berührt hat. Thompson und vor allem Hopkins sind grandios. Wie er den in seinem eigenen Korsett Gefangenen, Gepeinigten, hoch Sensiblen spielt ist unglaublich. Besser war er auch als Lecter nicht. Ein Film über verpasste Chancen, über verpasstes Glück, über ein verpasstes Leben. Man leidet hier die von Beginn an mit und denkt noch lange darüber nach. Schaffen nur ganz wenige Filme.
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 16. April 2022 11:18
von HCN007
iHaveCNit: Red Rocket (2022) – Sean Baker – Universal
Deutscher Kinostart: 14.04.2022
gesehen am 15.04.2022 in OmU
Arthouse-Kinos Frankfurt – Kleine Harmonie – Reihe 3, Platz 9 – 20:30 Uhr
Der neue Film von Sean Baker nach seinem großartigen „The Florida Project“ mit dem Titel „Red Rocket“ ist natürlich auch ein Film, der seinen Platz in meiner Liste gefunden hat. Vor allem, als dieser Film in Vorbereitung zu Ninja Thybergs „Pleasure“ aus dem Januar dieses Jahres auf meinem Radar erschienen ist. Gerade weil er thematisch eine passende Ergänzung und für sich selbst genommen eine tolle filmische Erfahrung ist.
Mikey Saber war einst ein gefeierter Pornostar, der komplett mittellos von Los Angeles in seine texanische Heimat zurückkehrt. Nur widerwillig und nur gegen Gegenleistung darf er im Haus seiner Ehefrau und seiner Schwiegermutter wohnen. Die Suche nach Jobs in der Region ist vor allem aufgrund seiner beruflichen Vergangenheit nahezu unmöglich, so dass er nach jedem Strohhalm greift um das notwendige Geld zu beschaffen. Dass er seine Vergangenheit in der Pornoindustrie noch nicht vergessen hat, das wird ihm klar, als der die 17-jährige Bedienung „Strawberry“ im Laden „Donut Hole“ kennen lernt und die für ihn eine Möglichkeit scheint, wieder in der Pornoindustrie Fuß zu fassen.
„Red Rocket“ ist ein interessantes und ambivalentes Charakterporträt eines naiven, extrovertierten, einnehmenden Opportunisten, der seinen besten Zeiten nachtrauert und mit jeder Entscheidung, die er aus guten Motiven heraus trifft wieder dort Fuß zu fassen sich eigentlich immer weiter davon entfernt. Dabei ist die Besetzung von Simon Rex ein absolut authentischer Glücksfall, denn seine Karriere gleicht der von Mikey Saber in Ansätzen und er trägt den Film mit ebendieser naiven, extrovertierten, energiegeladenen und einnehmenden Art und so schafft er es auch damit den Zuschauer selbst ein wenig zu manipulieren und mitzureißen. „Red Rocket“ ist aber auch ein interessantes Porträt eines Milieus in den ländlichen Regionen von Texas, in der die Hoffnung auf die Erfüllung des amerikanischen Traums eben nur eine Hoffnung bleibt und sich ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit einstellt. Inmitten der Zeit des Wahlkampfes 2016 zwischen Trump und Clinton und einer damit verbundenen Aufbruchsstimmung für die Region ist ein Typ wie Mikey Saber genau dieser Funken Hoffnung in den Augen derer, die noch nicht die Hoffnung aufgegeben haben und einen Teil dieser Naivität für sich bewahren können wie die von Suzanna Son mit einer ebenso einnehmenden Naivität gespielte „Strawberry“. Aber die Auswahl des N´Sync-Klassikers „Bye Bye Bye“, der im Film an einigen Stellen intoniert und integriert wird kommt nicht von ungefähr, da der Text durchaus ein wenig symbolisch auch auf den Film anwendbar ist. Der Film selbst ist aber nur die sehr empathische und authentische Sicht auf den Status Quo der Charaktere und der Region ohne eine wirkliche Entwicklung zu bieten.
„Red Rocket“ - My First Look – 9/10 Punkte.
Re: Dieselbe Prozedur wie jeden Tag
Verfasst: 16. April 2022 12:58
von danielcc
Casino Hille hat geschrieben: 14. April 2022 12:33
Was vom Tage übrigblieb
...
Vor Kurzem hier von Hille gelesen und gestern direkt auf 3Sat geschaut. Toller Film. Anthony Hopkins ist für mich vielleicht der einzige Darsteller, den ich eigentlich in jeder Rolle sehen kann. Es macht einfach Spaß ihm beim Spielen zuzuschauen. Grandios
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 17. April 2022 23:08
von HCN007
iHaveCNit: Eingeschlossene Gesellschaft (2022) – Sönke Wortmann – Sony Pictures
Deutscher Kinostart: 14.04.2022
gesehen am 17.04.2022
Kinopolis Main-Taunus-Zentrum – Kino 5 – Reihe 13, Platz 15 – 19:50 Uhr
Der aktuelle Output von Regisseur Sönke Wortmann ist schon beachtlich. Wäre die „Der Vorname“-Fortsetzung „Der Nachname“ nicht vom ersten Quartal 2022 in den Oktober verlegt worden, hätten wir mit „Contra“, „Der Nachname“ und „Eingeschlossene Gesellschaft“ innerhalb von knapp einem halben Jahr 3 Filme von Wortmann im Kino gehabt. Damit sich seine Filme aber nicht gegenseitig kannibalisieren ist das schon eine passende Entscheidung gewesen. Bei mir hätten sich die Filme aber nicht kannibalisiert. Alle stehen auf meiner Liste. Bei „Eingeschlossene Gesellschaft“, der auf einem Hörspiel und daraus adaptierten Drehbuch von Jan Weiler basiert, verschlägt es Wortmann wie auch bereits in seinem Kammerspiel „Frau Müller muss weg“ wieder in den Mikrokosmos deutscher Schulen.
Ein fehlender Punkt zum Abitur und der aufgebrachte Vater Herr Prohaska bringt die eigentliche Feierabend-Planung von 6 Lehrern eines Gymnasiums komplett durcheinander. Das noch im Lehrerzimmer befindliche Kollegium aus dem Sportlehrer Peter Mertens, der Musiklehrerin Heidi Lohmann, dem Chemielehrer Bernd Vogel, dem Lehrer Holger Arndt, der Referandarin Sara Schuster und dem für den fehlenden Punkt verantwortlichen Lateinlehrer Klaus Engelhardt hat bis 16 Uhr Zeit über den fehlenden Punkt von Fabian Prohaska zu beraten.
Sönke Wortmann macht aus „Eingeschlossene Gesellschaft“ ein spannendes, rasantes und durchaus amüsantes Kammerspiel, bei dem er sich auf ein gutes Ensemble aus Justus von Dohnanyi, Anke Engelke, Florian David Fitz, Nilam Farooq, Thomas Loibl, Torben Kessler und Thorsten Merten verlassen kann. Während Thorsten Merten großartig den verzweifelten und aufgebrachten Vater spielt, bedient der Rest des Ensembles nahezu jedes vorhandene klassische Lehrerklischee, bei dem dann auch noch bei jedem durchaus einige interessante Ab- und Hintergründe sowie Unzulänglichkeiten im Laufe der Diskussionen und Streitigkeiten aufgedeckt werden. Darüber hinaus werden zeitgemäße und vielleicht auch von der Zeit eingeholte Themen verhandelt, die aber für mich eher mehr oberflächliche Stichwortgeber sind als eine tiefgehende Diskussion. Darüber hinaus wird das Kammerspiel über einen wenn auch kleinen Nebenplot aufgebrochen, den es in meinen Augen auch nicht gebraucht hätte, gerade weil damit der Fokus auf das spannende Kammerspiel etwas verloren geht und ihm etwas Tiefe raubt.
„Eingeschlossene Gesellschaft“ – My First Look – 7/10 Punkte
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 20. April 2022 13:16
von Mr.Chrismas Jones
Die Braut, die sich nicht traut
Wahrscheinlich stehe ich wieder mal allein mit dieser Meinung da, aber ich persönlich fand den Film besser als „Pretty Woman“. Ich muss hier aber auch ganz klar sagen, dass ich nichts gegen RomComs habe, wenn sie gut gemacht sind, die Stars eine gewisse Chemie miteinander haben und sie unterhaltsam sind, kann ich ihnen durchaus was abgewinnen.
Aber „Pretty Woman“ fand ich irgendwie total langweilig. „Die Braut, die sich nicht traut“ hingegen hatte dafür aber echt einige wirklich witzige Momente und einen gewissen Charme.
Klar, alles ist ziemlich vorhersehbar, aber ich gucke mir die RomComs nicht wegen überraschender Wendungen oder hohen Anspruch an, sondern weil sie mich vom grauen Alltag ablenken und mir ein gutes Gefühl geben.
Ich muss dazu noch zugeben, dass ich großer Richard Gere-Fan bin. Ich weiß er ist nicht der große Charakterdarsteller, aber ich finde ihn irgendwie wahnsinnig sympathisch. Zudem konnte er hier in einige Szenen sogar mal sein komisches Talent zeigen. Außerdem liebe ich seine deutsche Synchronstimme Hubertus Bengsch, der könnte mir auch das Telefonbuch vorlesen.
Insgesamt ist der Film natürlich nichts Besonderes, aber für zwischendurch war der Film wohl okay und er war auch nicht so schmalzig wie ich anfangs befürchtete.
7 von 10 Punkten
P.S. Bitte lacht nicht über mich, weil ich mich als Fan von Richard Gere geoutet habe, denn ich weiß viele Männer mögen ihn nicht, weil er meist immer nur den Schnulzendarsteller gibt. Aber ich mag ihn irgendwie.
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 20. April 2022 13:54
von Casino Hille
Kein "Outing" nötig, Gere ist ein guter Schauspieler. In "Days of Heaven" finde ich ihn schon gut, aber klar, in seinen RomComs passte er auch immer wie A auf E. Obwohl ich Hugh Grant da sogar noch idealer finde.
Re: Zuletzt gesehener Film
Verfasst: 20. April 2022 14:57
von 00T
Mir gefällt Gere eigentlich immer gut, ob nun in RomComs oder ernsteren Dramen. Am liebsten mag ich ihn in "Primal Fear" bzw "Zwielicht". Klar, in dem Film ist natürlich Edward Norton der eigentliche Star, aber Gere verkörpert die schmierige und letztlich tragische Seite seines Protagonisten wundervoll und funktioniert im Zusammenspiel mit Norton auch durch sein zurückgenommenes Spiel sehr gut.