Re: Die Filme des Woody Allen

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Habe gestern sehr spät abends, so circa um 23:40 Uhr herum, "Vicky Cristina Barcelona" angesehen und bin ganz hin und weg, für mich wohl einer der besten von Woody Allen, die ich gesehen habe. Ein ganz toller, sehr kluger Film über Liebe (aber eben kein Liebesfilm!), der in den literarischen Fußstapfen von E. M. Forster and Henry James wandelt, soll heißen:

Hier geht es um zwei Frauen aus den puritanischen USA, die in Spanien unter der heißen Sonne und dank der Avancen eines nicht minder heißblütigen Spaniers ihre leidenschaftlichen Züge entdecken und sich dadurch neu zu erfinden versuchen. Ob das in eine offene Beziehung zu Dritt oder in eine spontane Affäre oder in überraschenden Sex mit einer anderen Frau mündet - klar ist nur, dass sie nichts von alle dem mit einem Label versehen wollen. Es ist eigentlich, im weitesten Sinne, ein Film um sexuelles Erwachen, und das lange nach dem Verlust der Jungfräulichkeit.

Exzellent gespielt von allen Beteiligten: Javier Bardem ist als spanischer Künstler charismatisch und suave bis zum Abwinken, Rebecca Hall und Scarlett Johansson sehen nicht nur beide bezaubernd aus, sondern bringen die komplexen Entwicklungen ihrer Figuren sehr schön zum Leben und Penélope Cruz als selbst-zerstörerische Ex-Frau hat sich ihren Oscar damals völlig zurecht erkämpft, denn so muss man ihre Auftritte nennen: Sie kämpft dauerhaft mit sich selbst, mit allen anderen, aber auch mit den Konventionen, die man ihr auferlegen will und an die sie sich nicht anpassen will.

Gefilmt ist das in herrlich stimmungsvollen Aufnahmen von Katalonien, richtig stark sind die unauffällig "stilisierten" Momente, etwa wenn ScarJo und Cruz sich in einer Dunkelkammer überraschend nahe kommen oder wenn Bardem und Hall sich an mehreren Stellen im Film begegnen, und jedes Mal eine Möglichkeit für mehr im Raum steht, die aber nur einmal wirklich genutzt und einmal sehr rabiat unterbrochen wird.

Ein herrliches Vergnügen, und um ausnahmsweise mal wieder im Notensystem zu baden: 9/10.
https://filmduelle.de/

Let the sheep out, kid.

Re: Die Filme des Woody Allen

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Nach "Vicky Cristina Barcelona" im März diesen Jahres (WTF! Kinder, wie die Zeit doch vergeht ...), habe ich jetzt kurz vor Jahresende nochmal eine Woody-Allen-Lücke schließen können, und mir das einzige Musical seiner Karriere angesehen: "Alle sagen: I love you". Eine interessante Hommage an die Broadway-Ära der 30er und 40er, gesungen werden dafür etwa zwei Dutzend Musiktheater-Standards der damaligen Zeit.

Es geht um eine wohlhabende Familie und wie jedes einzelne Familienmitglied in seinen romantischen Vorstellungen auf die ein oder andere Art gefangen ist, balancieren müssen auf dem kleinen Spalt zwischen Traumvorstellung und Realität. Drew Barrymore etwa ist unsterblich in Edward Norton verschossen, aber was ist, wenn der perfekte Ja-Sager aufgrund seiner Untergebenheit irgendwann ein wenig langweilig werden sollte. Woody Allen (mal wieder besetzt er sich selbst als liebeshungriger Neurotiker) verguckt sich in Venedig in Julia Roberts, und hat Glück, dass seine Tochter heimlich deren Therapiestunden belauscht hat. Nun kann er Roberts jeden Wunsch von den Lippen ablesen und sich zum perfekten Liebhaber verstellen. Bloß: Ist Perfektion wirklich das, was Frauen wollen?

Der feine Wortwitz, für den Allen berühmt ist, findet sich überall in "Alle sagen: I love you", und sein üblicher Stil, Dialoge in sehr langen ununterbrochenen Einstellungen zu filmen, tritt auch in den Gesangs- und Tanznummern auf, die mal mit einer größeren Choreo daherkommen, mal sehr reduziert bleiben. Unterhaltsam ist dabei, dass die textlich sehr romantischen Nummern auf einen - hinsichtlich Ausleuchtung und Bildsprache - naturalistischen Stil treffen, in dem sich inhaltlich wiederum fantastischere Elemente abbilden. In einer Szene beginnen etwa Geister zu tanzen, und sogar die Asche von Verstorbenen springt aus der Urne, um das Tanzbein zu schwingen. Im wunderschönen Finale ist Goldie Hawn an der Seine gar so verzückt, dass sie zu Schweben beginnt.

Übrigens gibt es am Ende noch eine irre Marx-Brothers-Anspielung auf Französisch, die mich doch sehr zum Lachen gebracht hat. Auch amüsant war es, in der Rolle von Stiefschwestern die noch jungen Stars Natalie Portman und Natasha Lyonne zuzuschauen, beide machen bereits einen exzellenten Job. Allen streut zudem auch politische Kommentare ein: Alan Alda streitet sich als Liberaler unentwegt mit den republikanischen Ansichten seines Sohnes (die in einem absurden Twist "medizinisch erklärt" werden), und Goldie Hawn ist den ganzen Film bemüht, einen köstlichen Tim Roth als Straftäter aus der Haft rauszuholen (denn sie setzt sich für eine progressivere Rehabilitierung von Verbrechern ein!), doch ihr Gutmenschengerede entpuppt sich als Heuchelei, als Roth sich schamlos an Barrymore heranmacht.

Ein sehr schöner Spaß, zugleich Romanze und Anti-Romanze. 8/10.
https://filmduelle.de/

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