Im kleinen Kino um die Ecke gab es gestern "The Boys from Brazil" und da ich den noch nicht kannte, wollte ich ihn natürlich unbedingt mitnehmen. Ein richtig toller Film, aber eben auch ein in seiner Ausrichtung unerwarteter! Wenn ein Regisseur wie der Oscar-prämierte Franklin J. Schaffner (immerhin verantwortlich für gleich mehrere Klassiker: "Planet der Affen", "Papillon" und "Patton") mit drei absoluten Schauspiellegenden in den Hauptrollen, nämlich Gregory Peck, Laurence Olivier und James Mason, zusammenarbeitet, erwartet man Prestige-Kino. Doch ihre Zusammenarbeit aus 1978 ist überraschenderweise etwas völlig anderes: Die verrückte (fiktive) Geschichte um den exilierten Auschwitz-Arzt Josef Mengele (Peck) und seinen teuflischen Plan, den ein ehemaliger jüdischer Nazi-Jäger (Olivier) Stück für Stück aufdeckt, entpuppt sich als schamloses, mit jeder Sekunde pulpiger werdendes Exploitation-Feuerwerk.
Dabei wandelt Schaffner auf einem sehr dünnen Pfad, irgendwo zwischen tatsächlich Gedankenspiel-anregender Sci-Fi und beinhartem Grindhouse-Trash.
Zum Plot nur so viel: Mengele bittet andere ehemalige Nazi-Schergen (darunter übrigens Walter Gotell, den ich darstellerisch noch nie so klasse gesehen habe!) darum, binnen zweieinhalb Jahren insgesamt 94 unschuldige Männer, die quer über den Globus verteilt leben, zu bestimmten Zeitpunkten zu ermorden. Lange Zeit besteht für uns Zuschauer ein Mysterium darum, was es mit diesen Männern, die - wie explizit betont wird - nicht mal Juden sind, auf sich hat. Die Auflösung hätte ich nicht mal erraten können! Mengele hat aus der DNA von Adolf Hitler insgesamt 94 Klone erstellt, die bei diesen Familien aufwachsen. Da Hitler seinen Vater im Alter von 14 Jahren verloren hat, sollen die Klonversionen nun genau dasselbe durchmachen, denn durch die exakt gleiche Sozialisierung erhofft sich Mengele die Heranzüchtung des neuen Führers.
Aber so absurd diese Synopsis in Unkenntnis des Films wirken mag: Erstaunlicherweise funktioniert die wirklich gut, da Schaffner einen durchweg zynischen und harten Ton anschlägt. Irgendwie habe ich einerseits die Prämisse und die große Auflösung schon irgendwie für bekloppt gehalten, aber trotzdem hat es nichts daran geändert, dass ich den Film auch ernstgenommen habe. Und das ist schon eine große Leistung. Schaffner gelingen einige gespenstische Bilder (etwa in Mengeles Domizil, in dem überall seine "Versuchskaninchen" herumlaufen, die fast wie Zombies aus einem Romero-Film wirken), und die Darsteller liefern wie erwartet ab: James Mason hat zwar nur eine kleinere Rolle, füllt diese aber mit Präsenz aus und wirkt wie eine Verkörperung der Bürokratie des Bösen. Laurence Olivier ist fast ein wenig unterfordert mit seiner Rolle, darf aber später eine KZ-Aufseherin verhören und da mal kurz unter Beweis stellen, wozu er eigentlich so fähig war. Und Gregory Peck hat sündhaft viel Spaß daran, das pure Böse zu spielen. Er gestikuliert wild, klingt immer als sei an der Grenze zur Manie - eine im wahrsten Sinne des Wortes irre Arbeit des Ausnahmeschauspielers.
Wie genial ist es zudem, dass Jerry Goldsmith mit der Musik zu den brasilianischen Jungs beauftragt wurde und sich dachte: Was passt am besten zu einem Exploitationsdrama mit Grindhouse-Wurzeln und mehreren Legenden vor wie hinter der Kamera? Genau: ein Walzer.
Auf sowas kommt eben nur ein Goldsmith ... Richtig spannend im herkömmlichen Sinne ist "The Boys from Brazil" gar nicht mal, das Tempo ist auch eher gemächlich, teilweise nimmt man sich Zeit, damit Bruno Ganz in ewiger Ausführlichkeit die "wissenschaftlichen Hintergründe" des großen Plottwists erläutern kann. Im Finale zeigt Schaffner aber nochmal sein ganzes Können. Die beinahe letzten Szenen spielen auf einer unschuldigen Farm, die von sehr vielen bissigen Dobermännern bevölkert wird, und nicht nur treffen da zwei Schauspielschwergewichte aufeinander, es wird auch erstaunlich blutig und derbe (ein kurzer Gewaltmoment veranlasste mich sogar dazu, mal für drei Sekunden nicht in Richtung der Leinwand zu schauen, und ich bin da eher nicht der Zartbesaitete). Ein toller und spannender, so konsequent wie bitterer Abschluss für diesen eigenwilligen Film.
Zugegeben: Für Schaffner, Peck, Olivier, Mason oder auch Kameramann Henri Decaë war "The Boys from Brazil" vermutlich nur eine Fingerübung, aber ich bewundere die Selbstverständlichkeit, mit der sie hier ein Kino präsentieren, das gleichzeitig vollkommen abwegig / schwachsinnig und seriös / grimmig daherkommt - und das es mal Filme gab, die auf Stars setzen, die alle längst Ü60 sind. 8/10.