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von ollistone
Agent
Licorice Pizza - Paul Thomas Anderson
Wenn es einen Ort und eine Zeit gäbe, in der ich lieber leben würde als im Hier und Jetzt, dann wäre das wohl Kalifornien in den frühen 70ern. Die Musik, Hippie-Mädchen, die Drogen, die Mode, kurze Röcke, die Frisuren und Schnurrbärte, ständiger Sonnenschein und ein unverkrampftes Verhältnis zur Freiheit. Insofern hat „Licorice Pizza“, sicherlich Andersons zugänglichstes Werk, allerbeste Voraussetzungen, bei mir offene Türen einzurennen, und doch tat ich mich anfangs ein wenig schwer, in den Film hineinzukommen, ohne genau sagen zu können, woran das liegt. Zu viele Kinder? Jedenfalls tat die Episode mit Sean Penn dem Film ziemlich gut, so wie auch die zweite und krachend komische „Erwachsenen-Episode“ mit Bradley Cooper zu den Höhepunkten des Films gehört. Ab der zweiten Hälfte gefiel er mir jedenfalls immer besser. Dass „Gary & Alana“, wie der Streifen zunächst heißen sollte, den Film alleine nicht tragen, will ich nicht behaupten, im Gegenteil, denn auch wenn beide keine klassischen Hollywood-Schönheiten sind (ich fragte mich, wie sich die ähnlich alte und bezaubernde Genevieve Angelson aus der großartigen 69er-Serie „Good Girls Revolt“ hier gemacht hätte), harmonieren sie doch als Fast-Paar ganz exzellent. Cooper Hoffman, Sohn von Philip Seymour, glänzt durch seine stoische Ruhe, während Alana Haim mit ihrem herben, schlecht gelaunten Charme zum eigentlichen Star des Films wird.
Irgendwer schrieb, „Licorice Pizza“ sei die jüngere, aber auch nettere Schwester von „Once Upon a Time… in Hollywood“, und so falsch ist das gar nicht, denn beide Filme vereint mehr als nur das San Fernando Valley und die Spät-Hippie-Zeit, in der beide angesiedelt sind. Den Begriff „Coming-of-Age-Film“ würde ich hier übrigens gerne vermeiden, jeder Film, in dem 15-Jährige mitspielen, ist ja neuerdings „Coming-of-Age“…
Wofür ich den amerikanischen Film schätze: Spielt der Film in den 70ern, so befinden wir uns auch mitten in den 70ern, mit Haut und Haaren, ohne jeden Zweifel. Versucht ein deutscher Film dasselbe, sieht es immer nach Kulisse und Kostümparty aus, selbst in einem insoweit eigentlich sehr gelungenen „Lindenberg“. Immer so ein bisschen „Haha, guck mal die Schlaghosen, und erst die Tapete!“ Da haben die Amerikaner irgendwie ein Händchen, einen Film authentisch wirken zu lassen. Außerdem: Wahnsinnig schön gefilmt, vor allem die Aufnahmen zur „blauen Stunde“ zaubern einem ein Lächeln ins Gesicht.
Ein komplexer Film, dessen Geheimnissen, weshalb er eigentlich so gut funktioniert, man erst noch auf die Spur kommen muss. Dem hätte ich einen Oscar gegönnt. Oder auch fünf.
"Wenn man sämtliche Schöpfungen des weißen Mannes von diesem Planeten entfernte, besäßen seine Ankläger weder Zeit noch Mittel, ja nicht einmal Begriffe, um ihn mit Vorwürfen zu überhäufen."