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von GoldenProjectile
'Q Branch' - MODERATOR
A Most Wanted Man (2014, Anton Corbijn)
Aufgepasst, Filmfreunde! Während ihr euch bei einem grossen Eimer Popcorn vom neuesten Zweihundert-Millionen-Blockbuster berieseln lässt, verpasst ihr womöglich im Programmkino um die Ecke den Geheimtipp des Jahres.
John le Carré ist wohl so etwas wie der Gegenentwurf zu Ian Fleming. Beiden gemein ist das Verfassen von Spionageromanen, inspiriert von der eigenen Tätigkeit im britischen Geheimdienst. Aber während Flemings James Bond durch seine glamourösen und fantasievollen Elemente besticht, zeichnet le Carré ein komplexes, realistisches Bild der Geheimdienstarbeit. Dieses Bild drückt auch die von Anton Corbijn realisierte Adaption seines Werkes A Most Wanted Man aus. Die Geschichte spielt in Hamburg zur Zeit nach dem 11. September und schildert in akribischer Präzision die Ermittlungen zweier konkurrierender Spionage-Abteilungen gegen das Finanzierungssystem mutmasslicher islamistischer Terroristen. Weiter ins Detail gehen möchte in an dieser Stelle nicht, denn dafür ist die Handlung zu komplex, zu spannend und zu aufregend. Gesagt sei nur, dass der Film mit der sensiblen Thematik nicht pauschalisierend und dumm umgeht, sondern ein differenziertes und faires Bild des Islams und der muslimischen Charaktere zeigt. Generell sind die Figuren allesamt sehr feinsinnig und spannend angelegt, sowohl in der Konzipierung als auch in der Umsetzung durch die Darsteller.
Diese sind nämlich vom Feinsten! Das zu früh verstorbene Ausnahmetalent Philip Seymour Hoffman fasziniert in der Hauptrolle des abgehalfterten Agenten Bachmann, ein problembehafteter, ungepflegter, übergewichtiger, saufender, rauchender und zunächst unsympathischer Fahnder, der aber von seinen Kollegen geschätzt wird und immer mehr zu einer hochinteressanten Figur heranreift. Hoffmans starkes Spiel in dieser ambivalenten Rolle ist eines der vielen Highlights des Films, tragisch ist nur, dass man wenn man die Umstände seines Todes berücksichtigt zum Schluss kommen kann, dass Einiges davon gar nicht gespielt ist. Ihm zur Seite steht ein exzellenter Willem Dafoe, einer der am meisten unterschätzten Leute in Hollywood, als vom Schicksal verfolgter Bankier. Erwähnt werden müssen ausserdem dringend noch die göttliche Rachel McAdams und der extrem ausdrucksstark aufspielende Grigoriy Dobrygin. Generell ist A Most Wanted Man aber bis in die kleinsten Nebenrollen gespickt mit spannenden Charakteren und Darstellern, sogar Herbert Grönemeyer taucht plötzlich auf, und hat darüber hinaus auch die Musik zum Film geschrieben. Da er aber nicht zu singen anfängt, geht auch das in Ordnung.
Zu bemängeln gibt es aus meiner Sicht reichlich wenig an A Most Wanted Man. Lediglich der ungeschickte Einsatz von Handkameras fällt an manchen Stellen etwas störend ins Gewicht und passt auch nicht wirklich zu diesem ansonsten sehr ruhigen und nachdenklichen Spionagethriller. Corbijns Inszenierung ist allerdings meist sehr simpel, aber wirkungsvoll und atmosphärisch und akzentuiert die spannende und vielschichtige Handlung, die bis auf kleinere Ausnahmen ohne grössere Wendungen auskommt, aber dadurch sogar noch eindringlicher und stärker wirkt.
Ein erstklassiges Ensemble, eine clevere und spannende Erzählung, messerscharf gezeichnete Charaktere und eine dezente aber kraftvolle Inszenierung: abschliessend lässt sich sagen, dass A Wanted Man für mich einer der besten Filme des Kinojahres ist und auch etwas vom besten, was ich in den letzten Jahren im Genre des Agentenfilms gesehen habe. Während die letzte le Carré Verfilmung Tinker Tailor Soldier Spy noch anstrengend, sperrig und verworren war, ist Corbijns Film feinsinnige und aufregende Kost. Die Schlussszene ist ein faszinierender emotionaler Kick.
Wertung: 9 / 10
We'll always have Marburg
Let the sheep out, kid.