Das europäische Kino

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Die Idee zum Thread hatte ich schon länger aber jetzt endlich eröffne ich ihn ^^

Wie sieht ihr das europäische Kino?

Ist die Wandlung vom eher kunstbetonten Film (Fassbinder, Godard, Herzog etc.) zum Mainstream-Kino unbedingt ein "Untergang des Morgenlandes"?

Wo steht Deutschland im europäischen Vergleich?


Meine Meinung werde ich noch schreiben. Erstmal seit ihr dran :wink:
"In a Bond film you aren't involved in cinema verite or avant-garde. One is involved in colossal fun."

Terence Young

Re: Das europäische Kino

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Für das Thema komm ich doch mal aus dem Halb-Exil.

Ich halte die künstlerische Glorifizierung des europäischen Kinos für sehr übertrieben.
Wenn Godard in "Außer Atem" Jump Cuts benutzt, hatte das keinen anderen Zweck als gegen die 'découpage classique' - ein paar etablierte Regeln aus Hollywood - zu rebellieren. Genauso der Einsatz der Handkamera. Das war ein völlig neuer, einfacher und selten bedeutungsvoller Look, der schnell seine Nachahmer fand und sich folglich in Hollywood etabliert hat.
Man darf auch nicht vergessen, das Hollywood seine Regisseure nicht in den Studios groß zieht und erzieht, sondern das dies Leute aus allen Ecken der Welt sind, die in ihren Ecken auf sich aufmerksam gemacht haben und auswanderten, um einfach noch mehr Möglichkeiten zu haben.

Deutsches Kino? Herzog? Naja.... da harkt es oft an den Drehbüchern und die Inszenierung ist für nationale, aber nicht internationale Verhältnisse außerordentlich.
Für's französische sehe ich das ähnlich, wobei die Inszenierung vergleichsweise besser ist.
Ansonsten gibt es in Europa keinen Ballungsraum der Filmindustrie, was auch mehr "Einzeltäter" zur Folge hat.

Klar ist, dass das europäische Kino kein so großen Einfluss hat wie in den 50er und 60er, wo die französische "Nouvelle Vague" mit besagtem Godard und Co. mit ihren Filmtheorien und der drastischen Umsetzung dieser einfach eine Hemmschwelle gelöst hatten, die heute einfach nicht mehr existiert.


Für mich gilt nach wie vor: Die besten und schlechtesten Filme "kommen" aus den USA.

Re: Das europäische Kino

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Was die Überbewertung des künstlerischen Wertes des europäischen Films angeht sehe ich das Ähnlich. Godard ist sicherlich ein sehr guter Regisseur, aber gleichzeitig ist er noch lange nicht Kubrick á la Francaise.
Die künsterische Note des europäischen Kinos ist ganz schön, aber mehr auch wieder nicht. Ich sehe auch den "Untergang" der künstlerischen Kinos nicht kommen, nur weil neuerdings in Europa sich ein eigenständiges Mainstreamkino herausbildet. Künstler unter den Filmemachern wird man in Europa mitunter auch in Zukunft finden.

Aber betrachten wir mal verschiedene europäische Länder, fangen wir mit Deutschland an. Werner Herzog mag zwar deutschstämmig sein, doch seine Produktionen sind schon seit geraumer Zeit sehr international. Sein Gesamtwerk finde ich durchwachsen. "Woyzeck" empfinde ich z.B. als ziemlich miesen Film, "Fitzcarraldo" dagegen finde ich ziemlich gut. Was sonst das deutsche Kino angeht bin ich nicht unbedingt begeistert. Produktionen auf internationalem Standard findet man eigentlich fast nur bei Bernd Eichinger, der Rest der Kinoproduktionen kann meist weder inszenatorisch noch in den restlichen Qualitäten überzeugen und wirkt mitunter eher nach TV-Produktionen. Tom Tykwer ist auch ein seltsamer Fall. Einerseits ist er durchaus ein Regietalent und seine Filme waren bisher auch meist weit über dem durchschnitt, doch scheint sein Ego sein größtes Hindernis zu sein. Die Misere des dt. Kinos ist besonders an den Komödien zu sehen: Diese sind meist besonders dümmlich und platt gehalten, Wortwitz oder anspruchsvollere Situationskomik sucht man meist vergebens.
Frankreich dagegen ist wohl das Land, das am ehesten zur Konkurrenz von Hollywood (hier als Überbegriff des amerikanischen Kino gemeint) werden kann. Die Filme sind oft inszenatorisch oft auf internationalem Niveau und mittlerweile zieht es sogar amerikanische Filmgrößen zu französischen Produktionen. Beispiele dafür sind Tommy Lee Jones (Three Burials), Liam Neeson (96 Hours), John Travolta (From Paris With Love) und Ewan McGregor & Jim Carry (beide in "I Love You Phillip Morris"). Drehbuchtechnisch sind die Filme oft auch auf internationalem Niveau und öfters brechen sie sogar mit "ungeschriebenen Gesetzen" des Kinos (36 - Tödliche Rivalen, 96 Hours), was Hollywood sich fast nie traut. Dabei ist es dem französischen Kino gelungen auch sein eigenes Flair zu behalten, den Filmen wohnt dennoch ein französisches Flair inne. Gleichzeitig ist Frankreich wohl auch das einzige europäische Land, dass sich Großproduktionen leisten kann. Ein Grund dafür ist wohl auch die große Beliebtheit des Kino-Mediums in Frankreich, die Franzosen sind eine echte Kinonation.
Das britische Kino ist mittlerweile auch auf dem Sprung. Leider sind die britischen Filme, die in den letzten Jahren erfolgreich waren, meist dem Gangster-Film Genre zuzuordnen und gleich danach kommen verschiedene Komödien. Ich hoffe da kommt noch mehr vielfalt. Potential ist auf alle Fälle da. Die Bondfilme lasse ich hier als Sonderform des britischen Kinos gelten, da sie wohl eine ziemliche Besonderheit sind.
Das italienische Kino hat in letzter Zeit wieder einige Lebenszeichen gezeigt, hoffentlich kommt da noch mehr. Das gleiche gilt für das spanische Kino.
Aus Skandinavien scheinen so langsam auch größere Kinofilme zu kommen. Mal abwarten was noch aus den nördlichen gefilden noch so kommt.
Für mich gilt nach wie vor: Die besten und schlechtesten Filme "kommen" aus den USA.
Dem kann ich mit Einschränkungen zustimmen. Es gibt so manche europäische Produktion die durchaus mit Hollywood mithalten kann. Für das französische Kino sei hier (um nicht wieder einen Luc Besson Film heranzuziehen) stellvertretend der "Public Enemy No. 1"-Zweiteiler genannt.
"In a Bond film you aren't involved in cinema verite or avant-garde. One is involved in colossal fun."

Terence Young

Der talentierte Alain Delon: Im Körper des Freundes

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Nur die Sonne war Zeuge

„Er hat eine rege Phantasie“, sagt Millionärssöhnchen Philippe Greenleaf an einer Stelle des Films „Nur die Sonne war Zeuge“ über seinen Begleiter Tom Ripley. Ein kurzer Satz, nicht mehr als fünf Worte, und doch reicht das aus, um diesen Tom Ripley und sein Wesen zu beschreiben – und um anzukündigen, was Philippe zum Verhängnis wird. Ripley ist eigentlich eine Figur der Literaturgeschichte. 1955 tauchte er im ersten von insgesamt fünf Romanen auf, welche die Kriminalautorin Patricia Highsmith über ihn, den jungen, mörderischen Identitätsdieb aus den Staaten, schrieb. Genau dieses erste Buch, „Der talentierte Mr. Ripley“, diente für den französischen Regisseur René Clément als Vorlage, als er 1960 seine Adaption drehte und dabei einem der größten Stars des europäischen Kinos zum Ruhm verhalf: Alain Delon.

Delon spielt jenen Tom Ripley, der im Auftrag von Senior Greenleaf nach Italien geschickt wurde, um Sohnemann zu einer Rückkehr in die USA zu überreden. Doch Tom genießt das römische Lotterleben an der Seite des verwöhnten Playboys und dessen Geliebter, der sinnlichen Brünetten Marge. Doch eines Tages wird Tom erwischt, als er sich heimlich vor dem Spiegel mit Philippes Klamotten einkleidet. Bei einer gemeinsamen Bootsfahrt offenbart sich Philippes brutale Art gegenüber seinen Liebsten – und Tom zeigt seine wahren Absichten. Beim Kartenspiel theoretisieren die beiden Männer darüber, ob Tom mit einem Mord an Philippe durchkäme und ob er so dessen Vermögen vereinnahmen könne. Philippe lacht während der Unterhaltung viel, doch Tom ist es ernst. Todernst.

Schon bevor ein gesprochenes Wort im Film ertönt, erweist sich Clément als Filmemacher mit geistreicher visueller Sprache. Die Namen der Schauspieler erscheinen handschriftlich auf dem Bildschirm. Handschriften erzeugen ein falsches Gefühl von Identität, wie sich später zeigt als Ripley in einer beängstigenden Szene mit berechnender Präzision die Signatur von Greenleaf bis zum letzten Grad Perfektionismus studiert und einübt. Ehe der Film beginnt, werden die restlichen Namen vor römischen Postkarten eingeblendet. Postkarten, im Jahr 1960 noch mehr als im 21. Jahrhundert ein Beleg für luxuriöse Fernreisen, symbolisieren den Neid und die Besessenheit, die Ripley zu seinen entsetzlichen Gewalttaten verleiten. Anders als im Roman versteht der Film die Geschehnisse unter gleißendem Sonnenlicht als Metapher für den Versuch eines jeden, sich in bestehenden Gesellschaftshierarchien über Besitzgüter einzuordnen.

Dieses gleißende Sonnenlicht an den Postkarten-Landschaften lässt „Nur die Sonne war Zeuge“ wie einen Urlaubsfilm aussehen. Der Originaltitel heißt ganz schlicht bloß „Plein soleil“, „Volle Sonne“ also, gedreht wurde neben Rom auch in Neapel und auf Ischia. Die Farbregie ist regelrecht sensationell: Leuchtende, bunte Farben und ein exzellentes Gespür für sommerliche Atmosphäre lassen das italienische Lokalkolorit besser aufkommen als in vielen Reisebroschüren. Der Filmpublizist Georg Seeßlen schrieb dazu: „Cléments Film ist sicher der erste Thriller, der die Gestaltung der Farbkamera bewusst als Mittel der Suspense-Erzeugung benutzt hat“ – und in der Tat ist es die unnormal idyllische, friedliche Zurschaustellung der Dolce Vita, welche den Schrecken der Geschichte überbetont. Dazu kommt die leichtfüßige, träumerische Musik des legendären Komponisten Nino Rota, die am Prädikat „Sommerfilm“ oberflächlich keinen Zweifel lässt. Auch sie kontrastiert mustergültig die düstere, psychologisch morbide Spannung der Geschichte, und Clément findet gemeinsam mit seinem Kameramann Henri Decaë die richtige visuelle Sprache für dieses ungewöhnliche Mischverhältnis: Landschaftspanoramen wechseln sich beständig und konsequent mit Nahaufnahmen der Darsteller ab, sorgen so für ein Höchstmaß an Konzentration.

Jene Darsteller sind es, die aus „Nur die Sonne war Zeuge“ ein unvergessliches cineastisches Erlebnis machen, allen voran Alain Delon. In den auslaufenden 1950ern hatte er im französischen Genre-Kino erste Erfolge verbuchen können, doch seine überragende Performance als Tom Ripley ließ ihn zu einem der bedeutendsten Schauspieler in der Geschichte seiner Nation werden. Sogar Patricia Highsmith selbst bezeichnete ihn als die Idealbesetzung für ihre Romanfigur. Der eiskalte Engel unter den europäischen Schauspielern fügt sich mit seinen hellblauen Augen und seinem attraktiven Äußeren perfekt in die Mise en Scène des Films ein: Sein hübsches Gesicht gepaart mit seiner höflichen, freundlichen Ausstrahlung lassen seine Taten umso grausamer wirken und jeder Moment, in dem Delon seinen Blicken eine unheimliche Aura mitgibt, lässt die Leinwand in Flammen stehen. Als er erstmals die Fassade fallen lässt, wird er zur ambivalenten Gestalt, zu einem kriminellen Bollwerk an der sonst hier so friedlichen Küste Italiens.

Seine Co-Stars spielen ebenso stark: Maurice Ronet ist als Philippe Greenleaf zu jeder Zeit als eingebildeter, verwöhnter Macho überzeugend, und die Chanson-Sängerin Marie Laforêt verleiht ihrer Marge eben die sorgende Unschuld, die einen Verrat durch Ripley so glaubhaft werden lässt. Dennoch gehört der Film vollkommen Delon, dessen ausgereiftes, einvernehmendes Charisma jenen Balanceakt gelingen lässt, der im Hinblick auf die literarische Vorlage so essentiell ist: Trotz seiner schrecklichen Taten und trotz seiner geheimnisvollen, verdorbenen und unnahbaren Charakterisierung ist Tom Ripley die zentrale Identifikationsperson für das Publikum, er ist als Sympathieträger konzeptioniert. Zwei Drittel der Geschichte handeln von seinem doppelbödigen, höchst riskanten Spiel als Betrüger, Mörder und Identitätsdieb. „Nur die Sonne war Zeuge“ ist kein Kriminalfilm über die Suche nach einem Täter, sondern macht die Zuschauenden zu Komplizen. Jedes weitere Hindernis, jeder mögliche Fehler wird zur streng getakteten Suspense-Sequenz ausgeweitet – ohne jede Effekthascherei. Die Kamera bleibt ruhig, dicht und hat es nicht nötig, die Tragweiten der verschiedenen Szenen überbetonen zu müssen.

Der meisterhafte Klassiker ist deshalb so schaurig, weil er den Weg der moralischen Uneindeutigkeit verfolgt. Der Ermordete ist ein Unsympath, aber mit verständlichen Motiven. Der Mordende ist ein Sympath, doch seine Beweggründe bleiben im Dunkeln. Zu diesem Zweck entfernte Clément auch eine psychologische Komponente der Romanvorlage, in der Ripleys Homosexualität und sein Interesse an Greenleaf verdeutlicht werden. Im Film bleibt es rätselhaft: Ist Tom nur ein habgieriger Mittelständler, der seine große Chance nutzt? Will er Rache an Philippe üben, für all dessen ignorante Auftritte ihm gegenüber? Oder ist es bloß eine allzu menschliche Neigung, dass wir während der Fütterungszeit lieber die Schlange anstelle der Maus sind?

Bis heute ist „Nur die Sonne war Zeuge“ ein Referenzwerk des Thriller-Genres, und ein Film, der seine Klasse und Qualität nicht mehr zu beweisen braucht. Während Clément in Italien drehte, schufen in seiner französischen Heimat Filmemacher wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard die Epoche der „Nouvelle Vague“, in deren Verlauf Filmemacher alter Tage heftig in die Kritik gerieten, so auch Clément. Dabei war er mit seiner Highsmith-Verfilmung auf der Höhe der Zeit und einem anderen Filmschaffenden außerhalb Frankreichs viel nähergekommen: Ebenfalls 1960 veröffentlichte schließlich der britische Alfred Hitchcock seinen „Psycho“. Auch dieser Film schuf Sympathien für einen Mörder, erklärte in der letzten Szene aber zumindest dessen Motive. Auch dieser Film sollte zum Klassiker und Meisterwerk des Genres werden.

Die von Clément gewählte Schlussszene für „Nur die Sonne war Zeuge“ stieß bei Patricia Highsmith höchstpersönlich auf Kritik. Während ihr Tom Ripley am Ende des Romans mit all seinen Taten ungeschoren davon kommt, hat sein Leinwand-Pedant in Form von Alain Delon nicht so viel Glück. Dem Film allerdings hier einen moralisierenden Ausgang vorzuwerfen, wie Highsmith es tat, greift zu kurz: Die zufälligen Umstände, die Ripleys Taten offenlegen, lassen seinen bestechend poetisch fotografierten Abgang umso tragischer wirken – und erhöhen ein letztes perfides Mal die Sympathien für den Mörder, bei dessen Taten nur wir Zuschauer die Zeugen waren. Und die Sonne natürlich.
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